Ein Schicksalsschlag, der alles verändert: Zwölf Jahre sind Jacek und Carolina ein Paar, sie haben eine kleine Tochter zusammen. Doch dann kommt Jacek eines Abends nicht nach Hause.
Das Schicksal schlägt zuWitwe mit 33 Jahren – wenn das Leben plötzlich Kopf steht

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Es ist ein heißer Spätsommertag, der Carolinas Leben für immer in ein davor und danach unterteilen wird. Die Sonne brennt am 7. September 2023 vom Himmel, Carolina trägt kurze Shorts, am Nachmittag geht sie mit ihrer Tochter und einer Freundin Eis essen. Carolina freut sich auf einen entspannten Abend daheim mit ihrem Mann Jacek. Seit 13 Jahren sind die beiden ein Paar, vor 22 Monaten wurden sie Eltern. Doch als Mama und Tochter gegen 17:20 Uhr zu Hause ankommen, ist Jacek nicht da. Auch angerufen hat er nicht, keine Nachricht geschickt, dass er später von seiner Motorradtour zurückkehren wird. Selbst sein Standort, den er normalerweise für seine Ehefrau bei Whatsapp aktiviert hat, ist abgelaufen. Noch bevor die Polizeibeamten und das Kriseninterventionsteam klingeln, weiß die damals 33-Jährige, dass etwas Schlimmes passiert ist. Aus einem Gefühl heraus googelt sie: „Unfall Ducati Hamburg“ – und findet sofort die Polizeimeldung. Ihr Mann Jacek ist tot, gestorben noch an der Unfallstelle.
Jaceks und Carolinas Kennenlernen ist zunächst nicht besonders romantisch. Das erste Mal sehen sie sich im April 2010 an einer Bushaltestelle, ein gemeinsamer Freund stellt sie einander vor. Carolina ist damals 20 Jahre alt und steht kurz vor dem Abitur. Der zwei Jahre ältere Einkäufer interessiert sie nicht weiter, sie hat einen festen Freund, an Jacek verschwendet sie nach diesem zufälligen Kennenlernen keine weiteren Gedanken.
Mit Jacek in ein unbeschwertes Leben
Doch wenige Monate später macht Carolinas Freund Schluss – und an Silvester meldet sich Jacek plötzlich mit einer SMS bei ihr. Ab da geht alles ganz schnell: Die beiden schreiben viel und telefonieren noch mehr. „Mein Mann hat es geliebt, stundenlang zu telefonieren. Ich habe das eigentlich gehasst“, sagt Carolina. Nur zwei Wochen nach der ersten SMS fragt Jacek Carolina, ob sie seine feste Freundin sein möchte. Sie sagt ja, obwohl sie eigentlich gar nicht so schnell in eine neue Beziehung wollte. „Aber mit Jacek war von Anfang an alles so einfach, so unbeschwert“, erzählt sie. „Er hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und war voller Lebensfreude.“ Das Gefühl der Leichtigkeit bleibt, Jacek unterstützt seine Partnerin, wo er kann. „Er hat meine Einsamkeit beendet“, sagt die junge Frau, die in der Schule häufig angeeckt ist und sich in ihrer Mädels-Clique manchmal wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Mit Jacek hat Carolina zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, dass da jemand ist, dem sie alles erzählen kann, der sie genauso liebt, wie sie ist – mit allen Macken, Unsicherheiten und vermeintlichen Schwächen. „Jacek hat mich auf Händen getragen und mir immer das Gefühl gegeben, dass er stolz auf mich ist.“ Nach zwei Jahren Beziehung zieht das Paar zusammen und adoptiert eine Malteserhündin. Am 6. Juli 2018 heiraten Carolina und Jacek, im November 2021 wird ihre Tochter geboren. Gemeinsam träumen sie davon, nach Schweden auszuwandern. Schon vor der Geburt ihrer Tochter reisen die beiden regelmäßig in das skandinavische Land, bald wollen sie den ersten Trip zu dritt unternehmen. Doch dazu kommt es nicht mehr.
Carolina trägt Urne selbst zum Grab
Mit dem Tod ihres Mannes setzt bei Carolina der „Überlebensmodus“ ein, wie sie selbst sagt. Die Polizisten, die an diesem heißen Spätsommertag an ihrer Haustür klingeln, nimmt sie kaum wahr. „In meiner Erinnerung tummeln sich dutzende Beamte in der Wohnung, aber vermutlich stimmt das gar nicht“, erzählt sie mit ruhiger Stimme im Videocall, nur 18 Monate nach dem Unfall. „Ich weiß noch, dass ein Polizist versucht hat, sich um meine Tochter zu kümmern. Aber sie wollte das nicht und hat laut geweint.“ Sie selbst, so erinnert sich Carolina, saß auf dem Sofa, vollkommen unter Schock. „Meine Erinnerungen an den Abend und die Zeit danach sind teilweise ganz verschleiert“, sagt sie. „Ich weiß nur noch, dass ich mich gar nicht mehr gespürt habe, mir war weder heiß noch kalt, ich habe auch nicht geweint. Alles, was ich denken konnte, war: Was mache ich jetzt?“ In den folgenden Wochen funktioniert Carolina wie auf Autopilot. Sie erledigt Anrufe, beantragt Witwenrente, organisiert die Beerdigung. Sie hangelt sich von Tag zu Tag, von Aufgabe zu Aufgabe.
Ich weiß nur noch, dass ich mich gar nicht mehr gespürt habe, ich habe auch nicht geweint.
Am 13. Oktober wird Jacek beigesetzt. Carolina trägt die Urne mit der Asche ihres Mannes selbst von der Kapelle bis zum Grab, eng an ihre Brust gedrückt. Als sie die Urne in den Boden hinunterlässt, geht plötzlich der Deckel des Gefäßes auf. Niemand außer ihr bemerkt es, aber Carolina kommt nicht umhin zu denken: „Wenn Jacek das gerade sieht, lacht er sich kaputt. War ja klar, dass ich Tollpatsch nicht mal seine Urne in einem Stück ins Grab bekomme.“ Mit der Beisetzung fällt eine riesige Last von der jungen Frau ab. Diese Aufgabe hat sie geschafft. Doch nun wartet eine noch viel größere Herausforderung auf sie: Carolina muss sich in ihrem neuen Leben zurechtfinden. In einem Leben, das sie so nie geplant hatte – als 33-jährige Witwe und alleinerziehende Mutter. Und sie muss lernen, mit ihrer Trauer umzugehen. Schritt für Schritt tastet sie sich vor, organisiert ihren Alltag neu, räumt Jaceks Hälfte des Kleiderschranks leer und sortiert seine Sachen fein säuberlich in durchsichtige Ikea-Kisten. Ihre Familie unterstützt sie, so gut es nur geht. Doch gerade in der Anfangszeit kann man es Carolina kaum recht machen. „Ich war schnell gereizt, nichts passte mir. Entweder ärgerte ich mich darüber, dass man mich wie ein rohes Ei behandelte oder vermeintlich nicht genug Aufmerksamkeit erhielt.“ Ihre Eltern und Schwestern halten das aus, manche Freundschaften nicht. Zu ihrer damaligen besten Freundin hat sie heute kaum noch Kontakt. Carolinas Schmerz und die Trauer überfordern die Freundin. Dafür werden andere Bekanntschaften überraschend enger und zu wichtigen Stützen.
22.000 Menschen begleiten sie online
Und noch einen Ankerpunkt findet Carolina: „Mir war von Anfang an klar, dass ich an diesem Schmerz nicht zerbrechen will. Ich wollte stark sein – für meine Tochter, aber auch für mich selbst.“ Sie beginnt, ihre Gedanken und Gefühle bei Instagram zu teilen, schreibt kleine Liebesbriefe an ihren Mann. „ und die Wahrheit ist, mein Herz liebt dich weiter – von weitem, ganz leise und für alle Zeiten.“ Dieser Teil steht unter einem Foto von Jacek und ihrer Hündin. Zu einer Zeichnung von Jacek und der gemeinsamen Tochter zitiert Carolina aus einem Songtext der Sängerin Lina Maly: „Das, was du bist, werd„ ich behalten. Die Art wie du lachst, wird mich immer begleiten. Das, was du glaubst, geht nie verloren. Ich heb alles auf und halt es geborgen.“ Was als persönliches Tagebuch beginnt, erreicht nach und nach immer mehr Menschen. Zahlreiche Kommentare und Nachrichten erhält Carolina, manche drücken ihr Beileid aus, andere teilen ihre eigenen Erfahrungen. „Mir hilft dieser Austausch bis heute. Dieses Gefühl, nicht allein zu sein, dass da andere Menschen sind, denen ähnliches passiert ist, das gibt mir Kraft“, sagt sie. Inzwischen folgen ihr fast 22.000 Menschen.
Der Traum vom Auswandern bleibt
Auf ihrem Profil spricht Carolina offen über den noch immer ungewohnten und häufig überfordernden Alltag als alleinerziehende Witwe und über ihren Kampf mit Trauer, Wut, Verzweiflung und Einsamkeit. Darüber, dass sie es an manchen Tagen kaum schafft, aufzustehen. Aber sie spricht auch über ihre Pläne für die Zukunft. Durch den Verlust ihres Mannes hat sie in sich selbst eine Stärke entdeckt, von der sie nicht wusste, dass sie existiert. „Jacek ist meine große Liebe, das wird er immer sein. Aber ich weiß, dass er sich für mich wünschen würde, dass ich wieder glücklich werde“, sagt Carolina. Carolina denkt jeden Tag an ihren Ehemann. Für ihre Tochter versucht sie, Jaceks Andenken so lebendig wie möglich zu halten. Die Kleine ist keine zwei Jahre alt, als ihr Papa stirbt, sie wird sich später kaum an ihn erinnern können.
Lebendige Erinnerung für ihre Tochter
Ihre Mutter setzt alles daran, ihr möglichst schöne Bilder von Jacek zu schaffen. Gemeinsam schauen die beiden oft Fotos an und besuchen das Grab. Manchmal zeigt ihre Tochter hinauf zu den Wolken und ruft begeistert: „Papa Himmel!“ Dieses Jahr möchte Carolina mit ihrer Tochter das erste Mal nach Schweden fahren, den Traum vom Auswandern hat sie nicht aufgegeben. Noch wichtiger ist ihr aber, gemeinsam mit ihrer Tochter neue Ziele und Träume zu erschaffen und ein Leben zu führen, in dem das Glück stärker ist als der Schmerz. Was sie Jacek sagen würde, wenn sie noch einmal mit ihm sprechen könnte? Carolina schießen Tränen in die Augen. „Ich würde ihm sagen, dass ich ihn liebe und vermisse. Und dass ich unendlich dankbar bin für unsere gemeinsame Zeit.“
Dieser Artikel erschien zuerst beim „Tagesspiegel“ in Berlin.