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Grauen im VerschickungsheimKinder mussten ihr Erbrochenes essen

Lesezeit 4 Minuten
Tote Seesterne liegen am Strand zwischen den Orten Kampen und List auf Sylt - im Hintergrund läuft ein Junge.

Tote Seesterne liegen am Strand zwischen den Orten Kampen und List auf Sylt - im Hintergrund läuft ein Junge.(Symbolbild)

Millionen Kinder wurden ab den 1950er-Jahren in Kurheime verschickt. Einige kehrten traumatisiert zurück. Petra Merz landete auf den Nordseeinseln Langeoog und Sylt und erzählt nun über diese Zeit und den Kinderhass.

Erst seit Oktober letzten Jahres kennt Petra Merz den Namen des Ortes, der sie vor fünfzig Jahren stark traumatisiert haben soll: das „Kurt-Pohle-Kindererholungsheim“ in Westerland auf Sylt. Im Alter von acht Jahren wurde sie 1975 von ihrer Heimat Stuttgart auf die Nordseeinsel verschickt und blieb dort sechs Wochen lang. „Es war alles schrecklich dort. So viel Aggressivität, so viel Kinderhass“, erinnert sie sich heute im Gespräch mit unserer Redaktion.

Dabei hatte sie sich so sehr gewünscht, das Meer endlich wiederzusehen. Bereits zwei Jahre zuvor, 1973, wurde Merz das erste Mal in ein Kurheim verschickt. Der Anlass: eine angeblich immer wiederkehrende Bronchitis. Damals ging es für die Erstklässlerin nach Langeoog ins „Dünenheim“, wie sie heute weiß. Muscheln sammeln am Strand, Pferde füttern und Lieder singen – Merz denkt gerne an diese Zeit zurück. Sie habe dort eine besonders nette „Tante“ gehabt – so wurden die Erzieherinnen vor Ort von den Kindern genannt. Auch an den Geruch von Pinienbäumen erinnert sie sich noch. Und dass sie in der „Seepferdchen-Gruppe“ war. „Ich habe das erste Mal das Meer gesehen und es lieben gelernt.“

Kinderkurheime als Trend der 50er- bis in die 70er-Jahre

Die gelernte Mathelehrerin, die mittlerweile in der französischen Hafenstadt Saint-Malo in der Bretagne lebt, ist eines von schätzungsweise drei Millionen Kindern, die zwischen den 50er- bis in die 70er-Jahre in sogenannte Kinderkurheime geschickt wurden.

Verordnet wurde der Kurbedarf meist von Kinderärzten oder durch die staatliche Kinder- und Jugendhilfe, damals Fürsorgeerziehung genannt. Doch statt sich vor Ort zu erholen oder Krankheiten auszukurieren, erlebten viele Kinder seelische und körperliche Misshandlungen. Eine prägende Zeit und ein bisher verdrängtes Kapitel in der deutschen Geschichte.

Aufarbeitung der Vergangenheit: Mehrere Monate hat Petra Merz zu Kurheimen auf Sylt recherchiert. Die 58-Jährige wurde selbst als Kind nach Langeoog und Sylt verschickt.

Aufarbeitung der Vergangenheit: Mehrere Monate hat Petra Merz zu Kurheimen auf Sylt recherchiert. Die 58-Jährige wurde selbst als Kind nach Langeoog und Sylt verschickt.

Auch Petra Merz schöne Erinnerungen an ihre Erstverschickung werden von den schlechten auf Sylt überschattet: ständiges Geschrei, Drohungen, Bestrafungen, Kinder, die ihr Erbrochenes essen mussten – Merz kämpft beim Erzählen immer wieder mit den Tränen. Ein Mädchen in ihrem Zimmer habe sich jede Nacht eingenässt und soll am Morgen von den Erzieherinnen niedergemacht worden sein. Auch von den anderen Kindern, die dem Mädchen gesagt haben sollen, dass es stinke. „Ich habe ihr eines Tages gesagt, dass ich nicht mehr mit ihr spielen will. Das tut mir heute noch leid. Wir Kinder wurden gegeneinander aufgebracht.“

Schlafmittel in den Gummibärchen

Als sie selbst einmal mit offenen Augen im Bett gelegen habe, sei sie auf den Flur gezerrt worden und habe sich auf den kalten Boden legen müssen. Viele Kinder hätten Gummibärchen mit Schlafmitteln bekommen, berichtet Merz.

Einen einzigen Brief aus dieser Zeit besitzt sie noch. „Liebe Mama! Man darf doch Päckchen schicken“, schreibt sie darin. Sie erinnert sich noch, dass sie im Brief die falsche Adresse des Heims angegeben hat und die „Tanten“ sie absichtlich nicht auf den Fehler hingewiesen hätten. Auch Fotos besitzt Merz noch von ihren Kur-Aufenthalten auf den Inseln. Und genau anhand dieser Bilder und einer intensiven Recherche konnte sie herausfinden, in welche Heime sie damals verschickt worden war. Auf das Dünenheim auf Langeoog kam sie, weil sie einen Artikel über eine Frau entdeckte, die als Kind ebenfalls dorthin verschickt wurde. Das Gebäude auf den Fotos war dasselbe wie auf ihren Bildern. „Leider ist sie mittlerweile verstorben, und ich kann mich nicht mehr mit ihr austauschen.“

Zudem stieß Merz auf eine Postkarte vom „Kurt-Pohle-Heim“ auf Sylt, auf dem der Speisesaal zu sehen ist. Da sie sich an diesen noch genau erinnern konnte – sogar an die Anordnung der Tische –, wusste sie sofort, dass sie dorthin verschickt wurde. Sie selbst hat nur noch ein Gruppenfoto vom Strand aus dieser Zeit. Wo war ich? Diese Frage, weiß Merz, treibt viele Menschen auch viele Jahre nach ihren Verschickungen noch um. Und: Wer war noch da und was ist über die Zustände dort bekannt? Gab es etwa Medikamentenversuche?

Gab es Medikamentenversuche?

Für die Heimortgruppe Sylt der „Initiative Verschickungskinder“ hat Merz in monatelanger Arbeit die Geschichte, Träger und genauen Standorte von insgesamt 78 Heimen auf Sylt recherchiert. Wertvolle Hilfe bekam sie dabei von Sinje Lornsen vom Sylter Archiv. „Irgendwann war ich süchtig und konnte nicht mehr aufhören“, sagt Merz. In digitalen Ordnern hat sie Zeugnisse, Postkarten, Fotos und Artikel zu den jeweiligen Heimen gesammelt. Wer noch weiß, dass er auf Sylt war und Erinnerungen an das Aussehen des Heims oder sogar Bilder davon besitzt, hat gute Chancen, durch Petra Merz Hilfe den Namen der Einrichtung zu erfahren. Schon bald soll es außerdem eine Google-Maps-Karte mit allen Heimen auf Sylt geben – dazu Grafiken der Einrichtungen.

Selbst wenn sie wollte, das „Kurt-Pohle-Heim“ in Westerland und das, was daraus wurde, könnte sie sich heute nicht mehr ansehen: Der Bau wurde in den 80er-Jahren abgerissen. „Dieses Wissen ist schmerzhaft. Ich kann dort nicht hinfahren, es mir anschauen und meine alten Erinnerungen durch neue ersetzen – diese Aufarbeitung ist nicht möglich.“ Dennoch möchte sie noch einmal auf die beiden Nordseeinseln zurückkehren. „Aber nur mit anderen Verschickungskindern gemeinsam“, sagt sie. „Alleine würde ich das nicht schaffen.“