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Gisèle Pélicot wird zur Ikone„Ich will allen Opfern sagen: Guckt Euch um, Ihr seid nicht allein“

Lesezeit 4 Minuten
Gisèle Pélicot nimmt Applaus entgegen, als sie dem Prozess gegen ihren ehemaligen Partner beiwohnt, der beschuldigt wird, sie fast zehn Jahre lang unter Drogen gesetzt und Fremde eingeladen zu haben, sie in ihrem Haus zu vergewaltigen.

Gisèle Pélicot nimmt Applaus entgegen, als sie dem Prozess gegen ihren ehemaligen Partner beiwohnt, der beschuldigt wird, sie fast zehn Jahre lang unter Drogen gesetzt und Fremde eingeladen zu haben, sie in ihrem Haus zu vergewaltigen.

Gisèle Pélicot soll jahrelang von ihrem Ex-Mann zur Vergewaltigung angeboten worden sein. Ihr Mut macht sie nun zur Symbolfigur der Frauenbewegung.

52 Männer im Alter von 26 bis 74 Jahren sitzen auf der Anklagebank des Gerichtssaals im französischen Avignon. Ihnen wird vorgeworfen, Gisèle Pélicot im Zeitraum zwischen 2011 und 2020 vergewaltigt zu haben. Darunter ihr Ehemann Dominique Pélicot, dem 92 der insgesamt etwa 200 Fälle der Vergewaltigung vorgeworfen werden. 20 weitere Männer, die die heute 72-Jährige ebenfalls vergewaltigt haben sollen, konnten bislang nicht identifiziert werden.

Der Hauptangeklagte soll Gisèle Pélicot im Internet auf einer mittlerweile nicht mehr verfügbaren Plattform anderen Männern zur Vergewaltigung (explizit ohne Kondom) angeboten und sie mit starken Medikamenten sediert haben, damit sie sich bei den Taten nicht wehren kann, geschweige denn mitkriegt, was ihr angetan wird. Dominique Pélicot legte bereits ein Geständnis ab: „Ich bin ein Vergewaltiger, so wie die anderen hier im Raum“, sagte der 71-Jährige am Dienstag mit Blick auf seine 50 Mitangeklagten. „Sie wussten alle Bescheid, niemand kann das Gegenteil behaupten.“

Das Ausmaß, in dem sich Pélicot an seiner damaligen Ehefrau verging und der Komplex aus Gewalt, den er über Jahre akribisch aufbaute, flog nur auf, weil er in einem Supermarkt unter die Röcke von Frauen fotografiert hatte. Ohne die entsprechende Gesetzgebung, die dies illegalisiert, würde das unvorstellbare Martyrium vermutlich noch immer andauern. Bei der folgenden Hausdurchsuchung fanden die Ermittler tausende Fotos und Videos auf Dominique Pélicots Computer, die die Vergewaltigungen der offensichtlich bewusstlosen Frau dokumentieren. Darunter befanden sich auch Nacktfotos der gemeinsamen Tochter.

Zehntausende demonstrieren gegen sexuelle Gewalt – Ricarda Lang mit Statement

Gisèle Pélicot hatte sich ausdrücklich gegen ein Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesprochen und möchte mit vollem Namen in den Medien zitiert werden. „Die Scham muss die Seite wechseln“, erklärte sie zu Beginn des Prozesses und ließ sich am Montag wie folgt zitieren: „Ich widme diesen Kampf allen Frauen und Männern, die Opfer von sexueller Gewalt wurden.“ Mit ihrem Mut hat sie der Frauenbewegung rund um #MeToo neuen Aufwind gegeben. 10.000 Menschen gingen in 40 Städten in Frankreich und in Brüssel am Wochenende auf die Straße und skandierten „In Solidarität mit Gisèle“.

Unter dem Motto „Wir sind alle Gisèle“, versammelten sich 3500 Demonstrantinnen und Demonstranten in Paris und riefen: „Vergewaltiger wir sehen Dich; Opfer, wir glauben Dir“, in Marseille waren es nach Angaben der Organisatoren mehr als tausend Menschen vor dem Justizpalast, vor dem ein Transparent mit der Aufschrift hing: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ Auch im westfranzösischen Rennes versammelten sich etwa 400 Menschen und hielten Schilder hoch mit Worten wie: „Schütze Deine Tochter, erziehe Deinen Sohn“ und „Gisèle, wir lieben Dich.“

Unterstützung erfährt Gisèle nicht nur von denen, die auf die Straße gehen oder bei Gericht, wo ihr am Dienstag Dutzende nach Verlassen des Gerichtssaals applaudierten, auch online finden sich unzählige Solidaritätsbekundungen. So äußerte sich auf X (ehemals Twitter) die frauenpolitische Sprecherin Ricarda Lang (Grüne) zu dem Fall und zollte Gisèle „tiefen Respekt“.

Gisèle Pélicot: „Guckt Euch um, Ihr seid nicht allein“

Gisèle Pélicot hat mit ihrer Entscheidung, den Prozess öffentlich abhalten zu lassen, ihren Teil dazu beigetragen, dass die Scham in Fällen von sexueller Gewalt die Seite wechselt. Sie tut das für alle Opfer von sexueller Gewalt, die unangenehmen Fragen ausgesetzt waren, denen eine Mitschuld zugesprochen wurde und die wegen dem, was ihnen angetan wurde, mit Scham leben: „Euretwegen habe ich die Kraft, diesen Kampf durchzuhalten“, sagte sie. „Ich will allen Opfern sagen: Guckt Euch um, Ihr seid nicht allein.“

Auch ihre Tochter Caroline Darian setzt sich für diesen Kampf ein. Sie hat ein Buch verfasst („Ich habe aufgehört, dich Papa zu nennen“) und eine Selbsthilfegruppe für Opfer von Vergewaltigungen nach der unfreiwilligen Verabreichung betäubender Mittel gegründet.

Den angeklagten Männern drohen bis zu 20 Jahre Haft. Doch egal, wie der Prozess ausgeht, Gisèle Pélicot hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie will zeigen, dass Frauen mit ähnlichen Erfahrungen die Macht haben, zu entscheiden, wie ihre Geschichte weitergeht. Die Männer, denen sie tagtäglich im Prozess gegenüber sitzt, die grausamen Schilderungen, die sie hört, all dem setzt sie sich erhobenen Hauptes aus – öffentlich, um allen den Blick auf die Täter zu ermöglichen und so eine Veränderung zu bewirken. Damit ist Pélicot in den Augen ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer zur Symbolfigur im Kampf gegen sexuelle Gewalt geworden. (mit dpa/afp)