Vater und Sohn sind todkrankFamilie Baumann geht auf eine letzte Reise
- Der elfjährige Luca Baumann hat eine seltene Fehlbildung des Gehirns, sein Vater Harry Bauchspeicheldrüsenkrebs.
- Wie verkraftet eine Familie gleich zwei tödliche Diagnosen?
- Ein gemeinsamer Urlaub auf der Nordseeinsel Spiekeroog soll helfen.

Sandra Baumann mit ihrem Mann Harry und den Söhnen Luca und Leon im Urlaub auf Spiekeroog.
Copyright: Ankea Janßen
Als Sandra Baumann erfährt, dass ihr Ehemann Harry Bauchspeicheldrüsenkrebs hat, geht ihr nur ein Satz durch den Kopf: "Jetzt lässt der mich auch noch alleine." Schon lange weiß die 52-Jährige, dass sie einmal ihren Sohn Luca beerdigen muss und dieser das Erwachsenenalter nie erreichen wird. Seit Juni nun die Diagnose: Auch ihr Mann wird bald sterben. Zurückbleiben werden ihr zweiter Sohn Leon und sie.
Kraft tanken auf der Sterneninsel Spiekeroog
Der Himmel ist wolkenlos über der ostfriesischen Insel Spiekeroog an diesem Tag Ende Oktober. Die Sonne glitzert in der Nordsee. Sandra Baumann hat sich ein Stirnband über den Kopf gezogen, um sich gegen den Wind zu schützen. An den Füßen trägt sie Gummistiefel und läuft durch den braunen Schlick. Noch nie war die vierköpfige Familie aus Pforzheim auf einer Insel. Zum ersten Mal nehmen sie an einer Wattwanderung teil, lassen sich Seeringelwürmer, Quallen und Muscheln zeigen.
Mit dabei ist auch Yvonne Alvarez. Sie arbeitet als ehrenamtliche Familienbegleiterin für den ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst Sterneninsel e.V. in Pforzheim und kennt die Baumanns seit sechs Jahren. Einmal die Woche unternimmt sie etwas mit Luca, um die Familie ein paar Stunden zu entlasten, ihr "Zeit zu schenken", wie sie es nennt."Es wird wohl der letzte gemeinsame Urlaub sein", sagt Yvonne Alvarez. Weil Spiekeroog seit August eine zertifizierte Sterneninsel ist, gibt es eine Kooperation zwischen den Namensvettern. Eine Woche Urlaub wird Familien finanziert, die die Auszeit besonders dringend nötig haben. Auf der autofreien Insel sollen sie Kraft tanken, mit Pferden am Strand reiten, Robben beobachten, frischen Fisch und Waffeln mit Sahne essen - unbeschwerte Momente erleben.
Sandra über ihren Sohn Luca: "Er wird niemals groß"
Bei Familie Baumann ist es dringend. Sohn Luca kam mit Lissenzephalie auf die Welt. Eine angeborene Fehlbildung des Gehirns, bei der die Gehirnoberfläche glatt statt gewunden ist. Der älteste sogenannte "Liss-Mensch" ist nur 23 Jahre alt geworden.Luca kann nicht sprechen, nicht laufen, nicht selbstständig essen. "Dass etwas mit ihm nicht stimmt, habe ich gemerkt, als Luca ein halbes Jahr alt war", sagt Sandra Baumann. Seine Motorik passte nicht zu seinem Entwicklungsstand, er krabbelte nicht, fiel einfach um. "Entweder er schlief oder schrie."
Im Alter von 15 Monaten finden die Ärzte endlich den Grund für sein Verhalten. "Seit dem weiß ich, dass ich den Satz 'Wenn Luca mal groß ist' nicht sagen werde. Er wird niemals groß." Sandra Baumann kündigt damals ihren Job in einer Kunststofffirma. Sie übernimmt die Vollzeitpflege für ihren Sohn, wäscht, wickelt und ernährt ihn über eine Magensonde. "Jetzt ist er schon elf Jahre alt", sagt sie stolz. Doch in letzter Zeit hatte Luca mehrfach epileptische Anfälle. Ein Zeichen, dass die tödliche Krankheit voranschreitet.
Harry bricht die Chemotherapie ab
In diesem Sommer dann der nächste Schicksalsschlag. Ehemann Harry verliert plötzlich stark an Gewicht, klagt über einen seltsamen Juckreiz und bekommt Gelbsucht. Der Hausarzt schickt ihn zum MRT in eine Klinik, dort die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Operativ werden dem 60-Jährigen Bauchspeicheldrüsenkopf, Zwölffingerdarm und die Gallenwege sowie die Lymphknoten entfernt. Harry macht eine Chemotherapie, bricht die zweite aber ab, weil es ihm so schlecht geht. "Ich habe dann gesagt: Feierabend, jetzt mache ich nichts mehr."
Mit dem Wohnmobil weg: Harry schmiedet Zukunftspläne
Harry, der 30 Jahre lang als Lkw-Fahrer gearbeitet hat und kurz vor der Rente stand, will die Zeit genießen, die ihm jetzt noch mit seiner Familie bleibt. Seine Frau sagt, er verdrängt die Krankheit. Sandra Baumann bremst ihn, wenn er Pläne schmiedet, von einer gemeinsamen Italienreise mit dem Wohnmobil spricht oder einem zweiten Spiekeroog-Aufenthalt im Sommer 2022. "Jetzt mal langsam, Schritt für Schritt", sagt sie dann. Mit seinem großen Sohn Leon will Harry Ausflüge mit seiner knallroten 125er machen. Eine "Rex Chopper"."Aber nicht über Nacht, dann wird Luca wieder krank", erwidert Leon. Der 14-Jährige schiebt seinen Bruder in einem speziellen Strandmobil durchs Watt, macht Motorengeräusche nach und tut so, als sei das Gefährt ein schnelles Rennauto, das durch die Pfützen prescht, kein klobiger Rollstuhl. Luca lacht und quietscht und fuchtelt wild mit den Armen.Einmal sei er für ein paar Tage im Landschulheim gewesen, erzählt Leon. Da habe "Luci" - so nennt er seinen kleinen Bruder meistens liebevoll - plötzlich starkes Fieber bekommen und sei "richtig krank" geworden. Seitdem versucht er zu vermeiden, längere Zeit wegzugehen. Auch wenn er Luca immer wieder sagt, dass er mal ausziehen wird, nicht ewig da sein kann.Aber was, wenn Luca einmal nicht mehr da ist? "Dann werde ich erstmal viel Zeit brauchen. Dann kann ich auch erstmal nicht zur Schule." Jeden Abend schlafen die Brüder gemeinsam ein. Luca liegt dann ganz nah an ihm, legt den Kopf an seinen Rücken oder seine Brust. "Er braucht den Körperkontakt."
"Du weiß nicht, wie lange der Papa noch hat"
So innig wie das Verhältnis zu Luca, so distanziert ist es gerade zu seinem Vater. Seine Mutter versucht zu vermitteln, wenn der Sohn keine Lust auf gemeinsame Ausflüge hat. "Du weißt nicht, wie lange der Papa noch hat", sagt sie dann. Aber wie soll ein Teenager damit umgehen, dass sowohl sein Bruder als auch sein Papa ihn früh verlassen werden? Und das alles, während er mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens konfrontiert ist.Sandra Baumann gibt sich Mühe, Leon nicht zum "Schattenkind" werden zu lassen. So werden Kinder bezeichnet, die im Schatten ihrer chronisch kranken oder behinderten Geschwister stehen. "Er ist mein Halt, ich wüsste nicht, was ich ohne ihn machen würde." Yvonne Alvarez sagt über Leon: "Er passt auf die ganze Familie auf."
Luca geht es gut, wenn es allen anderen gut geht
Nicht nur Leon, auch Luca hält die Familie zusammen. Wer ihn beobachtet, der merkt, dass es ihm am besten geht, wenn er seine Eltern und seinen Bruder um sich hat. Lachen die drei ausgelassen über etwas, dann sitzt er entspannt in seinem Rollstuhl und lächelt. Aber auch er gibt seinen Familienmitgliedern Kraft. "Wenn ich mal deprimiert oder traurig nach Hause komme, dann dauert es eine halbe Stunde und er bringt mich zum Lachen", sagt Harry. Genauso geht es Leon, der zu Hause sehnsüchtig erwartet wird, wenn er von der Schule kommt. "Er ist ein richtiger Sonnenschein", sagt Yvonne Alvarez.Die Baumanns geben sich gegenseitig Halt und haben doch keine Chance zu verhindern, bald auseinanderzubrechen. Auf dem Rückweg von der Wattwanderung kommt der Familie plötzlich eine Trauergemeinschaft entgegen, die hinter einem Sarg Richtung Hafen läuft. Harry drückt die Hand seiner Frau, jetzt zu Verdrängen, scheint unmöglich. Harry möchte verbrannt werden und dann an einem Baum in einem Friedwald beerdigt werden. Dort soll dann die ganze Familie eines Tages wieder zusammen kommen.