AboAbonnieren

Tödliche Schüsse auf Rocker-BossRätselraten um die Gießener Hells Angels

Lesezeit 4 Minuten
14929800E300F456

Hunderte kamen zur Beerdigung vom Gießener Rocker-Boss Aygün Mucuk.

Die Zukunft der Gießener Hells Angels ist drei Monate nach den tödlichen Schüssen auf ihren Chef völlig unklar. Warum haben die türkisch geprägten Rocker zum Jahresende ihr Clubhaus im mittelhessischen Wettenberg aufgegeben? Die Ermittler wissen es nicht. Es ist der Ort, an dem Rocker-Boss Aygün Mucuk von einem oder mehreren Unbekannten am frühen 7. Oktober 2016 mit mindestens 16 Schüssen umgebracht wurde. Ob sich das junge Gießener Charter ein neues Quartier sucht, ist genauso ungewiss wie die Nachfolge Mucuks.

Hinweise auf den mutmaßlichen Mörder des 45-Jährigen gibt es auch noch nicht. Die Staatsanwaltschaft Gießen sucht nach wie vor innerhalb und außerhalb der Rocker-Szene nach Hinweisen auf den oder die Täter.

Auf dem Gelände des Clubhauses im beschaulichen Wettenberger Ortsteil Wißmar mit seinen rund 5000 Einwohnern sollen nach bisherigen Erkenntnissen Wohnungen entstehen. Eigentum der Rocker an dem großen Haus direkt gegenüber der katholischen Kirche St. Raphael sei verkauft worden, heißt es. Die großflächigen Club-Schilder sind abmontiert.Die Schließung des Clubhauses bedeute aber nicht zwingend ein Ende des Charters Gießen, betonen die Ermittler. Ob sich die Mitglieder lediglich ein neues Domizil suchen oder ob mehr hinter der Schließung steckt, weiß die Polizei nicht.

Wohnungen statt Rocker-Heim

Wohnungen statt Rocker-Heim - eine solche Umnutzung wird von der Gemeinde „ausdrücklich“ begrüßt, wie Wettenbergs Bürgermeister Thomas Brunner (SPD) erklärt. Die Kommune hofft erst einmal auf ruhigere Zeiten. „Wir gehen davon aus, dass die Standortwahl durch den Wohnsitz von Herrn Aygün Mucuk beeinflusst wurde, da dieser bereits vor der Gründung des Charters in Wettenberg wohnte“, sagt der Rathauschef. „Wenn eine neue Person die Führungsaufgaben übernimmt, wird dies sicherlich auch Einfluss auf den Standort des Charters haben.“

Zwar habe man derzeit keine gesicherten Erkenntnisse, ob die Hells Angels ihre Aktivitäten in Wißmar vollständig einstellen werden. „Wir gehen jedoch davon aus, dass bei Aufgabe des Clubhauses eine deutliche Beruhigung eintritt. Wir werden weiterhin unserer Möglichkeiten nutzen, um eine Gefährdung der Bevölkerung möglichst gering zu halten“, sagt Brunner. Die Ereignisse auch um den Tod von Mucuk hätten viele Bürger beunruhigt, „so dass insgesamt eine Erleichterung insbesondere in der unmittelbaren Nachbarschaft festzustellen ist“.

Das bestätigt eine ältere Frau, die in der Nähe wohnt. Es habe zwar keine Berührungspunkte mit den Rockern gegeben und die Lautstärke habe sich auch in Grenzen gehalten. „Aber man hatte kein gutes Gefühl dabei“, sagt die Frau, die ihren Namen lieber nicht nennen will. Die Nachbarschaft fände es jedenfalls gut, wenn in dem Haus ganz normale Wohnungen entstünden. Auch, weil darin vor dem Rocker-Clubheim ein Bordell betrieben worden sei. „Weder ein Bordell noch die Hells Angels hat man gerne als Nachbar.“Ansonsten ist das Geschehen rund um die Rocker und der Mord an Mucuk kein Gesprächsthema mehr im Ort. Das beschäftigt höchstens noch die unmittelbaren Nachbarn, meint eine Frau in einer Bäckerei.

Wie geht es weiter an der Spitze?

Doch wie geht es weiter an der Spitze der Gießener Rocker? Deren Chef Aygün Mucuck galt als eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Ein Nachfolger, der die Führung des Charters mit seinen etwa 30 Mitgliedern übernimmt, ist nach Einschätzung von Beobachtern nicht einfach zu finden.

Mucuk hatte das Charter der sogenannten Jungen Wilden erst im Juli 2015 eröffnet. Vorausgegangen waren Machtkämpfe mit den alt eingesessenen Hells Angels in Frankfurt. Mucuck, der ursprünglich aus dem 2011 verbotenen Frankfurter Charter Westend stammte, wollte das Charter in Mittelhessen eigentlich schon im Sommer 2014 gründen. Wenige Tage zuvor kam es dann aber zu einer Schießerei vor einem Frankfurter Club. Mucuck und vier andere Männer wurden dabei verletzt.

Seit Mucuks Tod scheint es um die Rocker ruhig geworden zu sein, die 2016 auch mit Schüssen in der Frankfurter Innenstadt aufgefallen sind. Ein Racheakt nach dem Tod Mucuks, wie er von vielen befürchtet wurde, blieb aus. Von öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten oder offenen Konflikte weiß die Polizei derzeit nichts. (dpa)