Trotz einiger Videobelege sich schlagender Männer in Essen müssen nicht immer kriminelle Organisationen dahinterstecken. Ein Ortsbesuch bei jemandem, der zwischen Prügel und Populismus für Differenzierung wirbt.
Reportage vor OrtClan-Krieg im „Pott“ – ist dem wirklich so?
Der Marsch beginnt an einer Shisha-Bar. Hunderte Männer mit offenbar libanesischen Wurzeln machen sich auf den Weg. Junge und alte. Muskulöse und bierbäuchige. Bärtige und glatzköpfige. Breitbeinige und o-beinige. Einige rauchen, andere filmen das Ganze mit ihren Handys, übertragen es teils live auf Tiktok, wo es bis heute nachzuschauen ist. Vorne weg läuft einer, auf dessen T-Shirt „Boss“ steht. Die Polizei, so wirkt es zumindest, begleitet das apathisch.
Der Treck erreicht vom Kennedyplatz aus kommend den Salzmarkt in der Essener Innenstadt. Was dann passiert, ist aus mehreren Kamerawinkeln gut dokumentiert: Die Männer passieren ein syrisches Lokal. Worte werden gewechselt. Dann fliegen Stühle, Glas geht zu Bruch. Wer wen provoziert und wer als erstes zugeschlagen hat, ist unklar. Einige wenige Polizisten stehen zwischen den Fronten, machtlos angesichts der Gewaltexplosion.
Der Treck zieht weiter. Ein Video, aus der Perspektive des Lokals gedreht, zeigt Verwüstungen und einen Mann, der offenbar am Kopf blutet. Es wird gehustet. Es wurde Pfefferspray versprüht. Von wem, ist unklar. Ein paar Sekunden nur, dann ist der Spuk vorbei. Oder beginnt er da erst?
Die Videos machen die Runde in sozialen Netzwerken. In Essen, nein, im ganzen Ruhrgebiet herrsche Clan-Krieg. Erst wenige Tage zuvor gab es eine Massenschlägerei in Castrop-Rauxel, bei der auch Messer gezückt wurden. Auch davon kursieren Videoaufnahmen. Mutmaßlich kriminelle Syrer und Libanesen stritten sich um Einfluss und Macht. So hieß es anfangs.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schaltet sich ein. Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) sowieso, die Bekämpfung von Clan-Kriminalität ist sein politisches Lebensthema. Es müsse etwas passieren. Das dürfe sich der Staat nicht gefallen lassen. Die volle Härte des Gesetzes. Was Politiker eben so sagen.
„Ich hatte Angst, dass diese Aktion vieles kaputt macht“
Einige Tage später steht Ahmad Omeirat, helles Hemd, weiße Hose, Haare streng nach hinten gekämmt, etwas verloren am Rande des Salzmarktes. Die sichtbaren Schäden der Schlägerei sind beseitigt. Junge Menschen rauchen Shisha oder essen syrisches Fastfood im Schatten der Platanen, die den Platz überragen. Nichts deutet darauf hin, dass von hier aus eine bundesweite Diskussion um Deutschland und seine Migranten losbrach.
„Ich hatte Angst“, sagt Omeirat, „dass diese Aktion vieles kaputt macht.“ Sehr wütend sei er gewesen, als er hörte, was sich nachts hier abgespielt hat. „Die Bilder gaben auf den ersten Blick all denjenigen Recht, die schon 2015 gesagt haben: Wir schaffen das nicht.“
Omeirat stemmt sich gegen diese Lesart. Auf Facebook richtete er auf Arabisch einen Appell an Syrer und Libanesen. „Meine ehrenwerten Brüder“, beginnt er und schließt eine Belehrung darüber an, was Rechtsstaatlichkeit in Deutschland bedeutet. Es ist ein Friedensappell an „seine Community“, wie er es nennt.
Der Nachname des Kommunalpolitikers gehört zu denen, die in Deutschland häufig gleichgesetzt werden mit Clan-Kriminalität. Kommt ein Omeirat in NRW mit dem Gesetz in Konflikt, landet das schnell in der Statistik zur Clan-Kriminalität. Aber Ahmad Omeirat ist kein Drogenboss oder Schlägertyp. Er ist ein rechtschaffener Bürger, sitzt für die Grünen im Stadtrat von Essen und engagiert sich für Migranten und Flüchtlinge.
Omeirat spricht Deutsch und Arabisch. Er versteht beide Seiten und versucht, zwischen den Welten zu vermitteln, die teils seit Jahrzehnten nebeneinander existieren. Anfang der 1980er kam er als Zweijähriger gemeinsam mit seinen Eltern nach Deutschland. Sie flohen vor dem Bürgerkrieg im Libanon. Ihre erste Unterkunft war ein zur Flüchtlingsunterkunft umgebautes Obdachlosenheim.
Hintergrund: Wie definiert die Polizei einen Clan?
Auszug aus dem Lagebericht Clankriminalität der Polizei in NRW: „Ein Clan ist eine informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist. Sie zeichnet sich insbesondere durch eine hierarchische Struktur, ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl und ein gemeinsames Normen- und Werteverständnis aus. Clankriminalität umfasst das delinquente Verhalten von Clanangehörigen. Die Clanzugehörigkeit stellt dabei eine verbindende, die Tatbegehung fördernde oder die Aufklärung der Tat hindernde Komponente dar, wobei die eigenen Normen und Werte über die in Deutschland geltende Rechtsordnung gestellt werden können. Die Taten müssen im Einzelnen oder in ihrer Gesamtheit für das Phänomen von Bedeutung sein.“
„Es hat sich etwas in der öffentlichen Wahrnehmung verschoben“, sagt Omeirat über die Diskussion gerade in den vergangenen Jahren. „Aus den Bürgerkriegsflüchtlingen wurden pauschal libanesische Clan-Kriminelle. Alle stehen unter Generalverdacht.“ Omeirat beschreibt eine gesellschaftliche Ausgrenzung.
Hinzu kommt die rechtliche: Viele Bürgerkriegsflüchtlinge von damals sind bis heute in Deutschland nur geduldet, weil der Staat ihre Herkunft anzweifelt oder sie selbst diese nicht nachweisen können oder wollen. „Unter solchen Voraussetzungen zu leben, macht etwas mit den Menschen“, sagt Omeirat. Er wirbt seit langem für eine differenzierte Sichtweise.
Den Begriff Clan-Kriminalität empfindet er als rassistisch, die Ethnisierung von Kriminalität als problematisch. „Ich bin dafür, dass Straftäter verfolgt werden. Keine Frage. Aber ich bin dagegen, dass Kriminalitätsbekämpfung so aussieht, dass Nationalität und Familiennamen bekämpft werden.“ Diese Auffassung vertritt er seit Jahren. Er sei ein Clan-Sympathisant, sei ihm einmal vorgeworfen worden, sagt Omeirat und lacht. „So schnell geht das: vom Vorzeige-Migranten zum Clan-Sympathisanten.“
Spannungen im Libanon enden nicht mehr an der Landesgrenze
Omeirat sagt, die aktuellen Vorfälle hätten nichts mit dem Konstrukt Clan zu tun. Auch wenn sich das mittlerweile in der öffentlichen Wahrnehmung so verfestigt hat. Als Beleg zückt er sein Handy und zeigt ein Video. Eine libanesische TV-Persönlichkeit zieht in einem Interview aufs Übelste über syrische Flüchtlinge her, die im Libanon leben. Schmarotzer seien das, die die Landessprache nicht beherrschten und sich nicht integrierten. So fasst Omeirat das Gesagte zusammen.
Das Internet hat die Welt auf Hosentaschengröße zusammenschrumpfen lassen. Spannungen im Libanon enden nicht mehr an der Landesgrenze. Über Mobiltelefone tragen sie sich weiter. Auch ins Ruhrgebiet nach Deutschland, auch nach Essen. 7000 Menschen mit libanesischen und 15000 mit syrischen Wurzeln leben in der Stadt.
In ihren Kreisen fiel das Video auf fruchtbaren Boden. Zumindest beobachtete Omeirat das. „Wäre die Polizei auf Tiktok unterwegs und verstünde arabisch, dann hätte sie schnell gemerkt, was sich da zusammenbraut.“ Tatsächlich fehle es aber auf Seiten der Ordnungskräfte an solchen Mittlern zwischen Staat und Community.
Für den Kommunalpolitiker ist der Hetzbeitrag ein Teil der Erklärung dafür, was sich danach in Deutschland hochschaukelte und das erste Mal in Castrop-Rauxel explodierte. Wie in Essen gingen auf offener Straße erwachsene Männer aufeinander los: Syrer gegen Libanesen.
In den ersten Meldungen war umgehend von Clan-Kriminalität die Rede, von rivalisierenden ethnischen Banden. Bis sich einige Tage und Befragungen später die Staatsanwaltschaft zu Wort meldete: Man sehe keine Hinweise auf einen Clan-Hintergrund. Auslöser der Massenkeilerei war offenbar eine Schlägerei zwischen zwei Kindern. Das wiederum führte zu einer Mobilmachung zahlloser Erwachsener, die teils mit Messern bewaffnet anrückten. Ein Mann wurde dabei lebensgefährlich verletzt.
Es folgten wieder Videos, zum Teil Racheaufrufe, in denen Gewalt legitimiert wurde. Führende Persönlichkeiten der jeweiligen Communitys beteiligten sich offenkundig daran, redeten von Ehre, forderten ihre Kontrahenten auf, Gesicht zu zeigen. Und so kam es dann wohl zum Marsch von Essen. In dem Café, so heißt es, wurde wohl einer der Köpfe hinter den Videos der syrischen Seite vermutet.
Auf dem Salzmarkt steht seitdem stets ein Polizeiwagen. Am vergangenen Wochenende führte die Polizei verstärkte Kontrollen im Stadtgebiet durch. In Pressemeldungen zu den Ergebnissen der Kontrollen heißt es: „Bei der Durchsuchung eines 28-jährigen Esseners mit türkischer Staatsangehörigkeit stellten die Einsatzkräfte ein Messer sicher, das er versteckt an einer Halskette getragen hatte. In dem Fahrzeug des 28-Jährigen lag zudem eine Machete griffbereit in der Fahrertür. Einem ebenfalls 28-Jährigen (Essener mit türkischer Staatsangehörigkeit) fiel während der Kontrolle ein verbotenes Einhandmesser aus der Hosentasche.“ Inwieweit die Waffenfunde mit den vorangegangen Konfrontationen in Castrop-Rauxel und Essen zusammenhingen, blieb unklar.
Ab sofort seien alle Brüder, man danke der Regierung und Allah
Tage nach dem Sturm auf das Café hat sich die Stimmung beruhigt. Die Polizei führt das auf ihre verstärkte Präsenz zurück. Aber das scheint nur ein Teil der Antwort zu sein: Offenbar wurde ein sogenannter Friedensrichter eingeschaltet, der zwischen Syrern und Libanesen vermittelte. Ab sofort, so heißt es, seien alle Brüder. Man danke der deutschen Regierung und Allah.
Paralleljustiz nennen das einige. Auch Ahmad Omeirat ist da kritisch. „Wer Recht sprechen will, soll Jura studieren“, sagt er. Und kommt doch nicht umhin, festzustellen, dass der Friedensaufruf offenbar gehört wurde.
Die offiziellen Nachforschungen zur Schlägerei von Essen dauern derweil an. Von der Staatsanwaltschaft heißt es, es werde gegen Unbekannt ermittelt. Die Liste der Vorwürfe ist lang: besonders schwerer Fall von Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung, besonders schwerer Fall des tätlichen Angriffs gegen Polizeibeamte, Sachbeschädigung und Verstoß gegen das Waffengesetz. Ob ein Bezug zur sogenannten Clan-Kriminalität besteht, werde geprüft.