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Razzia in GelsenkirchenKindergeldbetrügern auf der Spur – unterwegs mit Kontrolleuren

Lesezeit 4 Minuten
Gelsenkirchen Bismarck

Eine Wohnstrasse im Stadtteil Gelsenkirchen-Bismarck. 

  1. In Gelsenkirchen haben Behörden auf Initiative des Landeskriminalamtes Familien kontrolliert, die zu Unrecht Kindergeld kassiert haben sollen.
  2. Unser Reporter war bei einer Kontrolle dabei.

Gelsenkirchen – Die Wohnung, die die Bezirkspolizistinnen Tanja Schlegel und Petra Kuschmierz am Dienstagvormittag kontrollieren, liegt in einem sozialen Brennpunkt Gelsenkirchens, im Ortsteil Bismarck. Viele Gebäude, sogenannte Problemimmobilien, sind von der Stadt stillgelegt worden; aus Sicherheitsgründen darf niemand mehr hinein, Zugänge und Fenster sind mit Holz- und Stahlplatten verbarrikadiert. Die bulgarische Familie A., zu der die Hauptkommissarinnen wollen, wohnt in einem heruntergekommenen Mietshaus, das aber offenbar nicht gegen die Brandschutzrichtlinien verstößt. Fünf Familien leben laut Klingelschild hier, Familie A. in der drit ten Etage. „Als wir am Montag hier waren, hat niemand aufgemacht. Mal sehen, ob heute jemand da ist“, sagt Schlegel, nachdem sie die Klingel gedrückt hat. Es surrt, Schlegel drückt die Haustür auf. „Auf geht’s.“

Taskforce gegen Kindergeldbetrug

Schlegel und Kuschmierz sind gekommen, um zu überprüfen, ob Familie A. möglicherweise zu Unrecht Kindergeld erhält. Außerdem wollen sie sehen, ob der Familienvater dort auch wirklich wohnt. Auf Initiative der Taskforce „Missimo“ des Landeskriminalamtes NRW haben Ermittler unterschiedlicher Behörden am Montag und Dienstag in Gelsenkirchen Familien kontrolliert, die wie die A.s in Verdacht stehen, die Familienkasse betrogen zu haben. Die Verdächtigen stammen fast ausschließlich aus Südosteuropa, viele aus Rumänien und Bulgarien. Gelsenkirchen ist nach Krefeld erst die zweite Stadt in Deutschland, in der die Taskforce gegen Kindergeldbetrug vorgeht.

In der dritten Etage öffnet eine junge Frau in Joggingho se und T-Shirt die Tür. Ein kleines Mädchen klammert sich an ihre Beine. Die Frau ist aus Bulgarien, spricht aber Türkisch. Deutsch versteht sie nicht, nur wenige Worte. Schlegel und Kuschmierz klären sie buchstäblich mit Händen und Füßen auf, wieso sie gekommen sind. Sie werden hereingelassen. Die Polizistinnen haben eigentlich nur Kenntnis von einem Kind, das an der Anschrift gemeldet ist. Es sind jedoch vier, wie sich herausstellt. Aber das sei nicht ungewöhnlich, sagen sie. „Viele Kinder sind auf die Namen der Mütter gemeldet. Und die weichen von denen der Väter ab“, sagt Kuschmierz. Ihre drei anderen Kinder seien in der Schule, versichert die Mutter. Ihre jüngste Tochter ist noch nicht schulpflichtig. Nach und nach breitet die Frau Dokumente wie Urkunden und Pässe vor den Beamtinnen auf dem Küchentisch aus. Sie weiß offenbar nicht, was die Polizistinnen von ihr wollen. Dann versucht sie vergeblich, ihren Mann telefonisch zu erreichen. Die beiden Ermit tlerinnen seufzen: „Heute hätten wir einen Dolmetscher gebraucht.“

Millionenschaden durch Betrug

Die erst vor einem Jahr gegründete Eliteeinheit, die beim Landeskriminalamt angedockt ist und in der Finanz-, Justiz- und Innenministerium gemeinsam Finanzermittlungen durchführen, hatte im vergangenen Jahr zunächst in Krefeld ein neues Modell erprobt und damit massenhaften Sozialleistungsbetrug aufgedeckt. Insgesamt 83 Kinder und deren Familien aus Südosteuropa hatten in Krefeld zu Unrecht Kindergeld kassiert – ein Millionenschaden. Wie viele es in Gelsenkirchen sein werden, steht noch nicht fest. Die Ermittler beginnen gerade erst mit der Auswertung.Schlegel und Kuschmierz begrüßen die Initiative des LKA. Endlich, sagen sie, werde etwas getan gegen den Missbrauch von Sozialleistungen. „Es ist gut, dass so viele verschiedene Behörden zusammenarbeiten. Das ist sehr hilfreich“, sagt Schlegel. Insgesamt seien die Ermittler im Zuge der zweitägigen Kontrol len in Gelsenkirchen an 163 Adressen gewesen. Schlegel und Kuschmierz haben Personen in acht Wohnungen kontrolliert. Aggressiv sei man ihnen nirgends entgegengetreten.

Unterbringung in Schrottimmobilien

Nach einmal erfolgter Genehmigung werden die Kindergeldzahlungen in Deutschland kaum noch von den Behörden kontrolliert. Und das nutzen die Kriminellen aus. Die Tätergruppen aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität bringen Menschen aus Südosteuropa in „Schrottimmobilien“ unter und beantragen für sie Sozialleistungen, die sie dann einbehalten. Die Familien bleiben häufig nur eine kurze Zeit in der jeweiligen Stadt. Während sie in ihre Heimatländer zurückkehren, werden die Sozialleistungen weiter an die Hintermänner überwiesen.Bei Familie A. scheint auf den ersten Blick, so vermuten es die beiden Bezirksbeamtinnen, alles in Ordnung zu sein. Zumindest was das Kindergeld betrifft, scheint es keine Auffälligkeiten zu geben. Dann aber legt Frau A. eine Bes cheinigung des Arbeitsamtes auf den Tisch, aus der hervorgeht, dass ihr Mann Arbeitslosengeld bezieht. Dieser arbeitet aber als Maler, der entsprechende Arbeitsvertrag liegt ebenfalls auf dem Küchentisch. Plötzlich klingelt das Handy der Bulgarin. Ihre Dolmetscherin ruft an. Erst jetzt weiß sie genau, weshalb die Polizei in ihrer Wohnung ist. Sie wirkt erleichtert.