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MissbrauchsvorwürfeAbbé Pierre – vom tiefen Fall einer französischen Ikone

Lesezeit 3 Minuten
Jahrelang stand er an der Spitze der beliebtesten Franzosen. Nun fällt das Ansehen von Abbé Pierre.

Jahrelang stand er an der Spitze der beliebtesten Franzosen. Nun fällt das Ansehen von Abbé Pierre.

Abbé Pierre soll Frauen und Mädchen belästigt und vergewaltigt haben. Vertreter der von ihm gegründeten Hilfsvereinigungen äußerten sich bestürzt.

Er hatte die höchsten Auszeichnungen Frankreichs erhalten und führte jahrelang die Rangliste der beliebtesten Menschen des Landes an. Als eine Art Nationalheiliger, der sein Leben dem Kampf gegen Armut und Obdachlosigkeit widmete, wurde er verehrt. Mit seinem ebenso traurigen wie rührenden Blick, der schwarzen Baskenmütze und dem weißen Bart galt er in den letzten Jahrzehnten als charismatische Ikone der Menschlichkeit, der den sozial Schwachen eine Stimme gab.

Umso tiefer stürzt Abbé Pierre nun im öffentlichen Ansehen, seit immer mehr über seine sexuellen Übergriffe auf Frauen, darunter auch Minderjährige, bekannt wird.

Abbé Pierre: Mädchen begrapscht und vergewaltigt?

Der Priester, einstige Widerstandskämpfer und zeitweilige Abgeordnete der französischen Nationalversammlung ist 2007 im Alter von 94 Jahren gestorben. Erst jetzt offenbart sich die dunkle Seite seiner Persönlichkeit: Ab den 1950er- Jahren und bis zu zwei Jahre vor seinem Tod soll er Frauen und Mädchen körperlich und verbal belästigt, sie begrapscht oder vergewaltigt haben. Manche der Betroffenen befanden sich in schweren Notlagen, die er ausgenutzt haben soll; mehrmals forderte er sie oder ihr Umfeld schriftlich zum Stillschweigen auf.

Öffentlich bekannt wurde dies ab diesem Sommer, nachdem eine Betroffene bereits vor einem Jahr gegen ihn aussagte. Als Tochter eines mit Abbé Pierre befreundeten Paars traf sie immer wieder auf ihn, der sie wiederholt bedrängt und berührt haben soll. Ihre Erklärung löste eine interne Untersuchung aus, der zufolge bislang 24 Frauen von Szenen berichteten, in denen der Geistliche ihre Brüste betatschte, ihnen Zungenküsse oder Oralverkehr aufzwang. Die unabhängige Expertenkommission soll auch untersuchen, wie er mehr als 50 Jahre lang so agieren konnte.

Vertreter der von ihm gegründeten Hilfsvereinigungen äußerten sich bestürzt und sicherten absolute Transparenz bei der Aufklärung zu. Die Abbé-Pierre Stiftung (Fondation Abbé Pierre), die sich vor allem für menschenwürdige Wohnverhältnisse einsetzt, kündigte an, ihren Namen und ihr Logo zu ändern. Es gehe nicht darum, die Erinnerung an den Gründer wegzuwerfen, aber man reagiere so „aufgrund der Schwere der Taten, aus Respekt für die Opfer und um unseren so wichtigen Kampf gegen die Armut nicht zu schwächen“, sagte der Generaldirektor der Stiftung, Christophe Robert.

Bewegung Emmaüs geht von weit mehr Fällen aus

Bei der Bewegung Emmaüs, die über Frankreich hinaus tätig ist, hieß es, man gehe von noch deutlich mehr Fällen aus. Mindestens bis Jahresende bleibt eine eigens dafür vorgesehene Telefon-Hotline aktiv.

Die französische Bischofskonferenz hat angekündigt, für die Untersuchungen die Archive zu öffnen, was sonst erst 75 Jahre nach seinem Tod möglich geworden wäre. Sie hat eingeräumt, dass Vertreter der Kirche früh über das Fehlverhalten des Priesters und das Brechen des Zölibats informiert waren. Diese erlegten ihm sogar einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in der Schweiz auf, der offenbar wenig erfolgreich war.

Bereits in der Vergangenheit hatten Biografien die Probleme nachgezeichnet, die es durch seine permanente Belästigung von Frauen gab. Die Historikerin Axelle Brodiez-Dolino wies allerdings auch darauf hin, dass es angesichts seines Ikonen-Status“ schwierig sei festzustellen, wann die Frauen sich freiwillig auf Sex mit ihm einließen – und wann nicht.

Zu deutlichen Beschwerden kam es hingegen bei Reisen des Priesters in die USA, nach Kanada und Schweden. Früh sei auch das Team in seiner Stiftung auf dem Laufenden und „tiefst enttäuscht und desillusioniert“ gewesen, schrieb die Biografin Sophie Doudet. Man habe „einen absoluten Gesellschaftsskandal“ und das Ende des Hilfsvereins befürchtet. Denn die Aura des Gründers nutzte der „guten Sache“.