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Militärhistoriker über Ukraine-Krieg„Halte Waffenstillstand für unrealistisch“

Lesezeit 5 Minuten

Im vom russischen Truppen eroberten Mariupol hat Putin Militärhistoriker Neitzel zufolge gezeigt, wozu seine Armee fähig ist.

Düstere Prognose: Der Ukraine-Krieg könnte „noch Jahre fortdauern“, sagt Deutschlands einziger Professor für Militärgeschichte, Sönke Neitzel, im Gespräch mit Tobias Schmidt. Die Hoffnung auf eine Waffenruhe sei „Wunschdenken“. Der Historiker rechnet auch  mit der Ukraine-Politik von Kanzler Olaf Scholz ab. Wie sieht er die Rolle Deutschlands in dem Krieg?

Herr Professor Neitzel, Panzer gegen Panzer mitten in Europa: Wie konnte es so weit kommen?

Sönke Neitzel: Das fragen wir uns alle. Kaum jemand hatte ein solches Kriegsbild vor Augen. Es ging um hybride Kriege, Cyber-Kriege. Ich habe zwar immer gewarnt, nicht zu vergessen, dass Kriege auch mit konventionellen Mitteln geführt werden. Aber auch ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin einen offenen, großen Krieg startet, mit dem schlichten Argument, dass er damit für die Stärkung seines Landes und seiner eigenen Position nichts erreichen könnte. Die ökonomischen, militärischen, menschlichen und moralischen Kosten sind gewaltig.

Gibt es aus historischer Perspektive eine Mitverantwortung der Ukraine?

Neitzel: Die sehe ich nicht. Die Forschung wird einordnen, wie sich der Westen, die EU, die Ukraine verhalten haben. Eine Rolle spielte womöglich, dass 2019 das Ziel einer Nato-Mitgliedschaft in die ukrainische Verfassung geschrieben wurde. Bis 2014 hat das Land alles getan, was es machen konnte, um Spannungen abzubauen: seine Atomwaffen abgegeben, die Armee quasi aufgelöst, ein Neutralitätsgebot. Kurzum, sie war keine Gefahr für Moskau.

Nach knapp drei Monaten hat Putin militärisch wenig erreicht. Erleben wir eine Kriegswende? Verliert Putin?

Neitzel: Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die ukrainischen Truppen die Landbrücke zur Krim im Süden vollständig zurückerobern und sich im Osten wieder bis zur Demarkationslinie vorkämpfen. Die Ukraine hat es geschafft, russische Offensiven zu stoppen. Die anderen militärischen Erfolge ergaben sich durch russische Teilrückzüge. Jetzt graben sich Moskaus Truppen entlang der Landbrücke ein. Um die Front zu verschieben, russische Verbände einzukesseln, müsste die Ukraine eine Überlegenheit von mindestens 3:1 herstellen, brauchte auch Luftüberlegenheit, um russische Nachschublinien zu kappen. Die Militärhistorie zeigt: Eine Offensive zu führen ist die hohe Kunst des Kriegshandwerks. Dazu fehlen der Ukraine auch schlicht die Waffen. Wir wissen sehr wenig über die echte Stärke des ukrainischen Militärs, aber das traue ich ihm nicht zu. Auch die Ukraine hat ja schon erhebliche Verluste hinnehmen müssen, von denen wir nur nichts erfahren.

Und im Osten?

Neitzel: Dort wird Putin alles daransetzen, die beiden Oblaste komplett einzunehmen und dann zu halten. Auch wenn ihm das nicht vollständig gelingen wird, dürfte die Intensität der Kämpfe nachlassen. In einigen Wochen erwarte ich ein Abflauen, dann stehen die Frontverläufe erst mal fest. Putin hat die Landbrücke zur Krim und immerhin 20 Prozent der Ukraine erobert. Das könnte ihm vorerst ausreichen. Es könnte Putins Strategie sein, den Gegner dann auf die russischen Stellungen anrennen und langsam ausbluten zu lassen.

Was will Putin jetzt noch erreichen?

Neitzel: Die Landbrücke zur Krim halten, die Oblaste im Osten erobern und den Feind im Donbass einkesseln. Dort standen schon immer die besten ukrainischen Verbände. Gelingt ihm das, könnte er Kiews Militär das Rückgrat brechen. Er wäre dann in einer Position, eine Waffenruhe auszurufen. Das brächte die Ukraine in eine sehr schwierige Lage. Würde sie dann weiter russische Stellungen attackieren, würde das Putins Propaganda stützen, aus dem Angegriffenen den Aggressor zu machen.

Wird er eine Atombombe einsetzen, um Gebiete im Dombass zu erobern?

Neitzel: Nein, dafür nicht. Aber ich halte den Abwurf einer taktischen Nuklearwaffe für möglich, wenn Putin die Gefahr sieht, den Donbass an die Ukraine zu verlieren. Der Präsident kann seinem Volk nicht mehr gegenübertreten, wenn er die Oblaste im Osten verliert. Aber als Historiker weiß ich nur eins mit Gewissheit: Es kann auch immer anders kommen. Den Zusammenbruch der Sowjetunion hat auch niemand vorausgesagt. Und zur Atombombe: China könnte Putin warnen, beim Einsatz einer Nuklearwaffe würde er eine Grenze überschreiten, dann wäre die Peking-Moskau-Allianz dahin. Das könnte ihn selbst dann vom Einsatz solch einer Waffe abschrecken, wenn das russische Militär kollabiert.

Olaf Scholz verlangt wieder und wieder eine sofortige Waffenruhe. Hat er den Status quo damit schon irgendwie akzeptiert?

Neitzel: Der Ruf nach einer Waffenruhe ist verständlich, aber Wunschdenken. Wir wollen alle, dass dieser Krieg sofort aufhört. Aber die Ukrainer wollen natürlich ihr Land zurückhaben. Ich halte einen Waffenstillstand, gefolgt von Verhandlungen, für unrealistisch. Die Vorstellungen beider Kriegsparteien liegen viel zu weit auseinander. Und keine Seite ist militärisch so geschwächt, dass sie verhandeln muss, um eine totale Niederlage abzuwenden. Bei einer Waffenruhe würde in Berlin vielleicht frohlockt, aber ein Ende des militärischen Konfliktes wäre mitnichten in Sicht. Die Geschichte ist reich an Beispielen für endlose Kriege. Der Wunsch nach Frieden vernebelt vielen den Blick auf die Realität. Meine Befürchtung: Der russisch-ukrainische Krieg wird noch viele Jahre fortdauern.

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Ist die Haltung der Bundesregierung, vor einer Eskalation zu warnen und sich möglichst rauszuhalten, klug?

Neitzel: Die Warnung vor einer Eskalation mag für Olaf Scholz innenpolitisch klug sein, um den pazifistischen Flügel in seiner Fraktion nicht gegen sich aufzubringen. Außenpolitisch ist diese Haltung unklug, ja riskant. Scholz zeigt Putin seine Angst. Das fördert das Bild eines schwachen Westens. Genau das hat dazu beigetragen, dass Putin den Krieg überhaupt gewagt hat. Außenpolitisch müsste Scholz auf eine Sprache der Stärke gegenüber Russland setzen.