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Kriminalpsychiater im Interview„Pädophile Täter kann man nicht umpolen“

Lesezeit 6 Minuten
KLinik in Bedburgh Hau

Bedburg-Hau: Ein Zaun steht vor dem Gebäude der psychiatrischen Klinik.

  1. Wie lassen sich Pädokriminelle therapieren? Was bereuen sie?
  2. Ein Kriminalpsychiater hat Antworten.

Bedburg-Hau – Lügde, Bergisch Gladbach, Münster – immer wieder schockieren neue Kindesmissbrauchsfälle das Land. Der forensische Psychiater Jack Kreutz war bis Januar Chefarzt der Forensik in der LVR-Klinik Bedburg-Hau und verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Umgang mit Sexualstraftätern. Der 66-Jährige erstellt auch psychiatrische Gerichtsgutachten zur Schuldfähigkeit von Tätern.

Herr Kreutz, wenn Fälle von Kindesmissbrauch bekannt werden, ist das Entsetzen immer groß. Wie lässt sich erklären, dass die Partnerinnen der Täter wohl häufig über Jahre nichts mitbekommen?

Die werden Zeichen oft nicht ernst genommen: Das Kind nässt wieder ein, schläft nicht mehr durch, und man konstruiert eine Erklä rung dafür – auch, weil man sich als Mutter nicht vorstellen kann, dass der Partner sich am eigenen Kind vergreift. Manchmal will man aber auch aus Bequemlichkeit – auch aus materieller Bequemlichkeit – nichts sehen. Um den Ernährer in der Familie noch an Bord zu haben. Das ist gar nicht so selten. Wir haben aber auch oft noch das Bild des Pädophilen, der sich als sabberndes Monster auf Kinder stürzt. In Wahrheit sind es meist die vermeintlich Netten. Die Täter sind in der Lage, Menschen von sich zu überzeugen. Das sieht man auch am Missbrauchsfall Bergisch Gladbach: Da kommen zwei Männer mit zwei dreijährigen Mädchen in ein Wellness-Bad und mieten ein Séparée, und keiner wird misstrauisch?

Und wenn ein Kind sich seiner Mutter anvertraut?

Es gibt nicht wenige Frauen, die dann sagen: Erzähl keinen Blödsinn. Dann sagt das Kind vielleicht noch einmal etwas, und dann weiß es: Mir hilft keine r. Die psychischen Schäden sind dann noch viel größer. Vater und Mutter sind die Personen, die das Kind beschützen sollen. Tun sie das nicht, ist das Urvertrauen weg. Das Kind wird für den Rest seines Lebens niemandem vertrauen können.

Kann ein Vater, der sein eigenes Kind missbraucht, trotzdem noch väterliche Gefühle haben?

Nein. Väterliche Gefühle bedeuten, dass der Vater sein Kind schützen will. Aber der Trieb, dem ein Pädokrimineller nachgegeben hat, steht über allem. Wer sein Kind liebt, kann einen solchen Tabubruch gar nicht begehen.

Viele pädosexuelle Taten werden offenbar nicht von Pädophilen begangen. Was ist deren Motivation?

Oftmals geht es den Tätern schlicht um Machtausübung. Oder sie benutzen Kinder, weil sie keine Beziehungen zu Erwachsenen aufbauen können. Oft ist der sexuelle Missbrauch Folge einer Parent ifizierung, das Kind wird zum Ersatzpartner gemacht.

Sexuelle Störung Pädophilie

Definition Pädophilie gilt als unheilbare Störung der Sexualpräferenz und beschreibt die Ausrichtung auf vorpubertäre Kinder. Ein realistisches Therapieziel ist, einen verantwortungsvollen Umgang mit der Neigung zu erreichen, so dass Pädophile keine Übergriffe begehen und keine Kinderpornografie konsumieren.

Man bespricht Dinge mit der Tochter, die man eigentlich mit der Partnerin besprechen würde, schüttet sein Herz aus. Nach und nach verschwimmen dann die Grenzen. So etwas kann nach Trennungen passieren. Es ist natürlich keine Partnerschaft, es ist nie eine Partnerschaft.

Wie lange dauert es, einen Pädokriminellen so zu therapieren, dass er keine Gefahr mehr darstellt?

Sehr, sehr lange. 20 Jahre im Schnitt. Vor allem wenn jemand kernpädophil ist, also ausschließlich auf Kinder fixiert, bleibt das Kind das Objekt der Begierde. So jemanden kann man nicht einfach umpolen. Man kann ihn aber dahin bringen, dass er erkennt: Ich muss Verhaltensweisen finden, die mich von den Taten abhalten. Schon die Gedanken daran muss er abblocken. Manchmal ist es nötig, neben der Psychotherapie Medikamente zu geben, die die Triebe dämpfen. Heutzutage beeinflussen dies e Mittel auf einer hormonellen Ebene auch die Phantasiewelt im Gehirn. Der Patient braucht aber eine hohe Einsicht und den Willen zur Mitarbeit. Ohne geht es gar nicht.

Früher glaubte man, Kastration könne helfen. In ihrer Wut fordern viele solche Maßnahmen auch heute noch. Was sagen Sie dazu?

Heute weiß man eigentlich: Das ist totaler Quatsch. Eine mechanische Kastration senkt den Trieb, aber sie kann nicht die Gedankenwelt beeinflussen. Ich habe zwei Männer erlebt, die in den frühen 1970er Jahren kastriert worden waren. Nachdem sie ihre Strafen abgesessen hatten, wurden sie rückfällig und wollten sich wieder an Kindern vergehen. Weil das nicht klappte, wurden sie so wütend, dass sie die Kinder töteten. Sie haben einen Teil der Gewalt, die die Gesellschaft ihnen zugefügt hat, auf die Kinder abgeladen. Das ist keine Entschuldigung, die beiden waren voll schuldfähig, aber die Kastration hat sie i n meinen Augen nur noch gefährlicher gemacht.

Wie machen Sie den Tätern klar, was sie getan haben?

Erst einmal müssen sie eine Empathie für die Opfer entwickeln. Die reden sich ihre Taten schön und behaupten etwa, dass die Kinder sie verführt hätten. Es ist wichtig, die Täter mit Gleichgesinnten zu konfrontieren – wie bei den anonymen Alkoholikern. Die anderen im Maßregelvollzug sagen: Wir sind hier schon zehn Jahre länger als du und glaub mal eins: Uns geht es scheiße, und dir wird es auch so gehen, wenn du endlich kapierst, was du dem Kind angetan hast. Das beeindruckt sehr viel mehr als ein Gespräch mit dem Seelenklempner.

Macht es Sinn, Pädokriminelle im Gefängnis unterzubringen?

Ohne Therapie überhaupt nicht. Selbst die Sicherungsverwahrung ist ja irgendwann zu Ende. Das ist in der Psychiatrie anders. Manche glauben a nfangs noch, sich verstellen zu können. Wenn sie etwa nach sechs Jahren merken, dass sie immer noch keinen Fuß vor die Tür setzen konnten im Sinne von Lockerungen, sieht das anders aus. Dann arbeiten sie mit, aber wenn der Groschen gefallen ist und sie erkennen, was sie getan haben, werden viele depressiv. Dann braucht es noch einmal viel Zeit, bis sie wieder therapiefähig sind. Aber das ist der Preis, den wir als Gesellschaft diesen Menschen abverlangen dürfen.

Was bereuen die Täter in der Therapie am meisten?

In der ersten Phase bereuen sie, dass es ihnen schlecht geht, weil sie in Haft sind. Das haben fast alle Täter, auch Brandstifter oder Einbrecher. Dann kommt die Phase, in der sie sich verändern, reflektieren und erkennen – im besten Fall. Mir hat ein Serienmörder mal gesagt: „Bitte lasst mich nicht raus! Ich schaffe vielleicht ein halbes Jahr, aber dann ist die nächste Frau tot.“ Er opferte also seine Freiheit, weil er nie wieder einem Menschen etwas antun wollte. Das war eine sehr reife Aussage, dafür hat er aber zehn, zwölf Jahre gebraucht. Er erkannte seine Dämonen.

Sie arbeiten schon lange mit Sexualstraftätern. Was tun Sie, damit Ihre Seele keinen Schaden nimmt?

Auf der rein professionellen Ebene mache ich Intervisionen in einer Gruppe von Kollegen sowie Einzelsupervisionen. Und im Privaten hilft mir eine ausgeglichene Work-Life-Balance mit guten Freunden und meiner Familie. Ich gärtnere sehr gerne und spaziere mit unseren Hunden durch den Wald. Ich habe bisher auch nicht viel über den neuen Missbrauchsfall aus Münster gelesen. Mir reichen die Täter, die ich begutachte.

Claudia Hauser führte das Gespräch