Seit dem 1. Januar ist er im Amt: SWR-Intendant Kai Gniffke ist auf Tom Buhrow an der Spitze der ARD gefolgt. Der neue Vorsitzende hat große Pläne – und er will den Vorwürfen von Vetternwirtschaft und ideologischer Einseitigkeit im Osten entgegentreten.
Interview mit ARD-Chef„Wir wollen den deutschen Markt nicht ausländischen Tech-Konzernen überlassen“
Herr Gniffke, befindet sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner bisher tiefsten Krise?
Er befand sich in seiner tiefsten Krise im vergangenen Jahr. Ich habe aber eine große Zuversicht, dass wir der ARD ein Update aufspielen und den Menschen deutlich machen können, warum es gerade jetzt öffentlich-rechtlichen Rundfunk braucht: Wir leben in einer Zeit großer Unsicherheiten, in der es noch nie so wichtig war, Wirklichkeit und Fälschung auseinander zu halten. Ich hoffe, es gelingt uns, den Menschen die Notwendigkeit eines unabhängigen Qualitätsjournalismus deutlich zu machen.
Ist das lineare Fernsehen nicht ein Auslaufmodell?
Das habe ich schon vor zehn Jahren gesagt, danach hatte die Tagesschau dann ihr Allzeithoch. Aber klar ist, Menschen selbst meines Alters nutzen immer mehr Streaming-Angebote. Das werden in wenigen Jahren mehr Menschen tun, als dass sie lineare Angebote nutzen. Lineares Radio und Fernsehen werden allerdings bleiben. Spätestens bei Live-Events haben sie ihre ganz große Stärke.
Haben Sie die Themen Aufsicht, Compliance und Transparenz wirklich schon abgeräumt?
Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Ich habe zum Beispiel komplett alles offen gelegt, was meine Amtsführung betrifft. Jeder kann nachlesen, was ich verdiene. Wir haben tatsächlich dafür gesorgt, dass die Aufsicht gestärkt wird, wir haben die notwendigen Mittel dafür bereitgestellt. Und wir haben nun in der ARD einen einheitlichen Compliance-Standard.
Stört Sie eigentlich die Diskussion um die Intendanten-Gehälter und Büroausstattungen?
Ob sie stört, ist nicht die Frage: Wichtig ist, dass die Aufsichtsgremien vollkommen frei sind, zu entscheiden, wie eine Führungskraft zu vergüten ist. Sie orientieren sich an öffentlichen Versorgungsbetrieben, wie dort die Vergütungsstruktur aussieht. Bei den Büroausstattungen braucht es eine vernünftige Infrastruktur, damit wir arbeiten können, aber Luxus braucht es nicht.
Länderparlamente und damit auch die Politik bestimmen maßgeblich mit über die ARD-Sender. Wie unabhängig können Sie agieren und reformieren?
Wir können komplett unabhängig arbeiten. Die Rahmenbedingungen setzt die Politik in den 16 Bundesländern. Die Ausgestaltung ist unsere Sache. Es ist mir jetzt im Moment so wichtig, dass wir uns nicht vertagen. Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. In schwierigen Situationen müssen wir dafür sorgen, dass der unabhängige öffentlich-rechtliche Rundfunk stark bleibt.
Können Reformen mit dem notwendigen gewaltigen Ausmaß in einem föderalen System gelingen?
Es ist gut möglich. Ich habe 16 Jahre lang mit der Tagesschau eine Gemeinschaftseinrichtung der ARD leiten dürfen, sozusagen mit neun Chefs, das waren die Intendanten. Das war manchmal bei Beschlüssen schwierig, aber auf der anderen Seite konnte auch nicht einer alles bestimmen. Das hat unsere Unabhängigkeit gesichert. Am Ende ist das föderale System großartig, vor allem, weil es uns die Nähe zu den Menschen in der Region sichert.
Ein Sprichwort lautet: „Frag nicht die Frösche, wenn Du einen Sumpf trocken legen willst.“ Kann die ARD sich aus sich selbst erneuern?
Die ARD muss sich selbst reformieren, wir haben uns eine große Transformationsagenda gegeben. Wir wollen den deutschen Markt mit seinen Menschen nicht ausländischen Tech-Konzernen überlassen. Jedes Land hat eine mediale Lebensader. Die soll nicht abhängig sein von den Launen Elon Musks oder den chinesischen Algorithmen bei Tiktok. Wir wollen der Medienanbieter sein, bei dem sich Menschen professionell recherchierte Informationen holen und sich eine Meinung bilden können. Sie sollen auch ihre Meinungen austauschen können und sich an uns reiben dürfen. Das ist meine Vorstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der nächsten Jahre.
Ist ein System mit unabhängigen Sendern in der ARD noch zeitgemäß, wenn sogar schon eine Fusion mit dem ZDF diskutiert wird? Und wäre diese Fusion nicht sinnvoll?
Vom föderalen Prinzip möchte ich nicht lassen. Es gilt auch, die Vielfalt in Deutschland abzubilden. Stellen Sie sich vor, es gäbe nur noch fünf große Zeitungen in Deutschland und keine Regionalzeitungen mehr. Die Medienvielfalt und der publizistische Wettbewerb zwischen ARD und ZDF haben uns allen gut getan. Eine Fusion halte ich im Moment für nicht förderlich.
Bedeutet die Brandrede Ihres Vorgängers Tom Buhrow eher eine schwere Hypothek oder ist sie eine Steilvorlage für zukünftige Reformen?
Eher Steilvorlage. Wir denken in dieselbe Richtung. Wir wissen, wie groß die Aufgabe ist, die vor uns liegt. Die Mittel dafür werden nicht unbegrenzt vom Himmel fallen. Wir werden Kompetenzzentren bilden, wir werden zum Beispiel bei den Radiowellen enger zusammenarbeiten. Jeder muss nicht jede Welle 24 Stunden am Tag selbst betreiben. Wir werden auch unsere digitalen Angebote durchforsten. Das Abschaffen war bisher nicht die größte Stärke der ARD, da haben wir Luft nach oben. Wir müssen jetzt auch an die Generation der Auszubildenden denken, die ihren Renteneintritt im Jahr 2065 haben. Diese Generation, die in unserem Land in den nächsten 30 Jahren Verantwortung übernimmt, wird die Medien anders nutzen, darauf müssen wir heute Antworten finden. Sonst erweisen wir unserer Demokratie einen Bärendienst.
Reicht der finanzielle Rahmen der ARD, um journalistische Premium-Qualität zu liefern und im Wettbewerb mit Amazon, Google sowie Netflix mitzuhalten?
Unsere Mitbewerber haben unglaublich tiefe Taschen. Aber für mich überhaupt kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Wir haben die Aufgabe, das bestmögliche Mediensystem zu gewährleisten. Ich finde, dass die deutsche Landschaft aus Verlagen, öffentlichen Medien und kommerziell betriebenen Medien das beste Mediensystem der Welt ist. Wer sich in anderen Ländern dem Medienkonsum hingegeben hat, erkennt, welches große Potenzial in unserem Mediensystem steckt. Für dessen Stärkung müssen wir hart arbeiten, dürfen uns nicht überrennen lassen und dürfen die Kontrolle nicht verlieren. Mit „wir“ meine ich alle Medienhäuser.
Haben Sie schon einen Termin mit Herrn Haseloff wegen eventueller Anpassungen der Rundfunkgebühren?
Das werden die Abgeordneten in Sachsen-Anhalt selbst entscheiden. Es gibt dafür ein in Deutschland vorgesehenes Verfahren, um die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sicherzustellen, damit haben wir gute Erfahrungen gemacht und werden es auch beim nächsten Mal so machen. Die Herausforderung ist riesengroß. Im Rahmen des Beitragsverfahren werden wir genau prüfen müssen, welche Mittel wir im Wettbewerb mit amerikanischen Tech-Konzernen brauchen. Darauf würde dann unsere Beitragsanmeldung fußen. Aber darüber möchte ich jetzt nicht spekulieren.
Sie haben in einem Interview gesagt, die ARD soll erfolgreicher werden als Netflix. Wie soll das gehen?
Dafür sind exzellente Inhalte in allen Genres notwendig. Wir sind stolz auf die besten Nachrichten sowie herausragende Dokumentationen, müssen aber auch bei den Menschen sein, wenn sie mal die Füße hochlegen und einen Film schauen wollen, der ihnen gefällt. Das heißt nicht, dass Unterhaltung immer leicht sein muss. Es können auch fiktionale Produktionen mit gesellschaftlichem Wert sein. Wir sollten auch mit den Deutschen mal wieder sportliche Erfolge feiern. Wir wollen für die Deutschen eine mediale Heimat sein.
Die zweite Säule für den Erfolg ist eine exzellente Technologie. Deswegen ist das Streaming-Angebot zusammen mit dem ZDF so wichtig, da bündeln wir schon jetzt die Kräfte, um den Menschen das beste Nutzungserlebnis zu bieten. Das ist ambitioniert, aber wir haben auch das Zeug dazu. Es gibt so viele Technologietreiber in Deutschland, wir sind ein Land voller Erfinder und Unternehmer. Warum soll uns das im Medienbereich nicht nutzen? Wir müssen Technologie und Journalismus zusammen denken. Beim Journalismus der Zukunft geht es schließlich immer wieder um die Frage: Wie unterscheiden wir Wirklichkeit und Fälschung? Da müssen wir der Technologie immer einen Schritt voraus sein.
Wo ist der Platz der Öffentlich-Rechtlichen auf dem medialen Marktplatz im Wettbewerb mit den privaten Medien?
Wir bewegen uns alle in einem Feld, in dem es darum geht, Menschen zu unterhalten, zu bilden und zu informieren. Alle Medienhäuser haben da ihren Platz. Wo wir Schnittmengen haben, müssen wir uns austauschen, wie wir damit umgehen müssen. Wir hatten im Dezember dazu ein ermutigendes Gespräch mit Spitzen des BDZV (Bundesverband der Digitalpublisher und Zeitungsverleger, die Red.). Wir sind selbstkritisch, wo wir unsere Aufgaben exakter definieren müssen: Bei den Sendebezügen oder der großen Genauigkeit von Quellenangaben. Wir wollen auch dort, wo es die Staatsverträge zulassen, künftig auf Angebote der Verlage verlinken.
Kann auch Teil der Reformen sein, den Verlegern weniger Konkurrenz auf den digitalen Plattformen zu machen? Das trifft besonders im Osten Deutschlands die privaten Medienunternehmen sehr hart.
Grundsätzlich sind die Probleme auch für Verlagshäuser sehr ähnlich, sind aber in einigen Regionen besonders ausgeprägt. Wir kriegen besonderen Anschauungsunterricht in den USA. Es gibt dort keine Regionalzeitungen mehr, publizistisch ist das eine Wüste. Darum bin ich sofort dabei, wenn es darum geht, die Medienlandschaft in Deutschland in ihrer Vielfalt zu erhalten. Auch daran würde ich gerne mitwirken.
Was halten Sie in diesem Zusammenhang von der Idee, die Regionen mehr den privaten Medienunternehmen in der Region zu überlassen und sich mehr auf die nationale wie internationale Berichterstattung zu konzentrieren?
Dann würden wir unsere Aufgabe als ARD nicht mehr wahrnehmen. Der Kern und der Auftrag der ARD sind regionale Berichterstattung. Wir haben eine klare Abgrenzung, dass wir keinen Lokaljournalismus machen. Dazu stehe ich auch. Beim Verzicht auf das Regionale würden wir uns aber von unserer Kernkompetenz, der Nähe zu den Menschen, verabschieden. Am Ende auch von unserem gesetzlichen Auftrag, das fände ich keine gute Idee.
In einer ganz besonderen Art berichten zentrale Redaktionen über Ostdeutschland: im Duktus von Auslandsberichterstattung. Als wäre der Osten eine permanente Problemzone. Lediglich in PR-nahen Themenfeldern wie etwa Tourismus kommt der Osten gut weg. Was stimmt da nicht in der Weltsicht der Programmplaner?
So nehme ich die Berichterstattung nicht wahr. Ich habe in meiner Zeit beim NDR unter anderem engen Kontakt zum Funkhaus Schwerin gepflegt. Die sind dort alle schon zuhause in Neubrandenburg, Greifswald, Rostock oder Schwerin. Das gilt auch für andere Regionen. Der MDR ist wie kaum ein anderer in seiner Region verankert. Vielleicht können wir besser werden, auch 30 Jahre nach der Einheit, die immer noch existierende Unterschiedlichkeit in der Wahrnehmung der Wirklichkeit besser zu verstehen und abzubilden, ohne den Verdacht zu erwecken, dass wir Menschen erziehen wollen. Die Menschen sind klug genug, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Da muss keiner nachhelfen.
Die Aversion gegen staatliche Einflüsse, Vetternwirtschaft, ideologische Einseitigkeit beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist im Osten besonders ausgeprägt. Die Unabhängigkeit der Medien wird hier besonders infrage gestellt. Der FDP-Filz in Sachsen-Anhalt, der CDU-Filz in Sachsen und Thüringen und nicht zuletzt die Machenschaften beim rbb spielen den Kritikern wie Skeptikern in die Hände. Was gedenkt die ARD gegen diesen massiven Vertrauensverlust zu unternehmen?
Das Beste, was wir tun können, ist exzellente Arbeit. Wir haben in der Pandemie ein so großes Vertrauen wie nie zuvor bekommen. Die Menschen haben sich an unseren Informationen orientiert. Die ARD ist seit mehr als 70 Jahren die Begleiterin der Deutschen. Wir haben den Menschen gezeigt, wie die Mauer gefallen ist, wie Götze 2014 das entscheidende Tor geschossen hat, wir stehen für den „Tatort“ und wir sagen jeden Abend „Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau“. Das ist das Grundgefühl der Sicherheit. Wir müssen deutlich machen, dass wir bei Ihnen sind, auch wenn es bitterlich schwer wird. Wann immer wir den Eindruck haben, dass Menschen sich übersehen fühlen, dann ist es unsere Aufgabe, diesen Menschen Gesicht und Stimme zu geben. Es ist Kern des öffentlich-rechtlichen Auftrags, der Vielfalt in Deutschland Gehör und Stimme zu geben. Das gilt in besonderem Maße für die Regionen in Ostdeutschland.