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Hiroshima-GedenktagWie künstliche Intelligenz die Erinnerung am Leben halten soll

Lesezeit 6 Minuten
Ein Avatar als Zeitzeuge: Die 91-jährige Yoshiko Kajimoto (kleines Bild) steht den Musuemsbesuchern virtuell Rede und Antwort.

Ein Avatar als Zeitzeuge: Die 91-jährige Yoshiko Kajimoto (kleines Bild) steht den Musuemsbesuchern virtuell Rede und Antwort.

In Japan gibt es kaum noch Zeitzeugen, die von den Atombomben-Abwürfen von 1945 berichten können. Eine künstliche Intelligenz soll helfen, ihre Erinnerung zu bewahren – und sogar Gespräche mit ihren virtuellen Versionen ermöglichen.

Yoshiko Kajimoto sieht nachdenklich aus. „Ich frage mich, ob sie darüber reflektiert hatten, was sie da anrichteten. Oder ob sie sogar Reue empfanden? Jedenfalls habe ich gehört, dass die Soldaten noch in der Luft feierten, als sie die Bombe abgeworfen hatten.“

Aber, spekuliert die 91-Jährige dann und wiegt ihren Kopf wieder grübelnd von rechts nach links: „Sie hatten doch sicher selbst Angst vorm Tod.“ Daher dürften die Kampfpiloten, die da hoch überm Himmel von Hiroshima flogen und erstmals eine Massenvernichtungswaffe fallen ließen, doch nicht wirklich froh gewesen sein?

Dies sind die Überlegungen, die Yoshiko Kajimoto anstellt, wenn man ihr die Frage stellt: „Was denken Sie über die Personen, die die Bombe abgeworfen haben?“ Oder genauer gesagt: Wenn man dem KI-Programm diese Frage stellt, das dann im Namen der älteren Dame antwortet.

Eine zwei Meter hohe Videowand zeigt Yoshiko Kajimoto auf einem Stuhl sitzend, über ein Spracherkennungsprogramm beantwortet sie Fragen. Kajimoto ist adrett gekleidet, trägt ein dunkles Kleid, eine Perlenkette und Dauerwelle. Dem Anlass entsprechend – dem Erinnern an den dunkelsten Tag ihres Lebens.

Stadtzentrum in Sekunden ausgellöscht

Um kurz nach acht Uhr morgens des 6. August 1945 schien in ihrem Heimatort Hiroshima die Welt unterzugehen. 600 Meter über den Dächern der Großstadt war plötzlich etwas am Himmel zu sehen, das einige Augenzeugen als zweite Sonne bezeichneten. Die Temperatur in Hiroshima stieg auf mehr als 2000 Grad Celsius, die enorme Hitze und die Druckwelle der Explosion ließen das Stadtzentrum binnen Sekunden zum größten Teil verschwinden. Auf einen Schlag waren rund 70000 Menschen tot, schon bald sollte die Opferzahl doppelt so hoch liegen.

Es war die erste in einem Krieg eingesetzte Atombombe, die über Hiroshima detoniert war. Drei Tage später warfen US-amerikanische Kampfpiloten, die zu diesem Zeitpunkt schon fast alle japanischen Großstädte durch Luftangriffe zerstört hatten, eine zweite Atombombe über Nagasaki ab. Sechs weitere Tage dauerte es, bis Japan – bis dahin Alliierter des bereits drei Monate zuvor besiegten Nazideutschlands – bedingungslos kapitulierte. Der Zweite Weltkrieg war damit beendet.

Dabei markierte der Atombombenabwurf – dessen militärische Notwendigkeit bis heute höchst umstritten ist, da Japan zu diesem Zeitpunkt praktisch schon besiegt war – auch die erste große Kampfhandlung des Kalten Krieges. Die kapitalistischen USA demonstrierten ihre Macht gegenüber der kommunistischen Sowjetunion. Und aller Welt war klar: Mit dem Beginn des Atomzeitalters sollte die Existenz der Menschheit fortan dauerhaft bedroht sein.

Sorge vor Aussterben der Erinnerung

Knapp 80 Jahre später geht in Japan die Sorge um, dass mit dem Ableben derer, die vom Tag der Katastrophe erzählen können, auch das kollektive Erinnern aussterben könnte. „Das Durchschnittsalter der Überlebenden ist jetzt 84 Jahre“, sagt Seiko Ikuta von NHK, Japans öffentlich-rechtlichem Rundfunksender. „Bis niemand mehr von ihnen am Leben ist, dürften nur noch einige Jahre vergehen. Aber als Warnung an den Nachwuchs sind die Überlebenden von riesiger Bedeutung.“ Sie könnten aus Erfahrung beurteilen, wie schlimm Atombomben wirklich seien.

Das Problem, dass die Wehen einer Atombombe allmählich vergessen werden, ist real. Bereits im Jahr 2015 kam eine Umfrage zu dem Schluss: „Im Bewusstsein verschwinden diese Ereignisse, sogar in Hiroshima und Nagasaki.“ Doch gerade in Zeiten geopolitischer Spannungen, wo selbst im seit Ende des Zweiten Weltkriegs pazifistisch eingestellten Japan aufgerüstet wird, halten viele die Konservierung von Zeugenberichten für besonders wichtig.

„Das wollen wir mit diesem Projekt erreichen“, erklärte Seiko Ikuta im Mai in einer Konferenzhalle in Hiroshima. Über eineinhalb Jahre hat die NHK-Redakteurin mit einem Team aus Dateningenieuren, Übersetzern, Historikerinnen und eben Zeitzeugen an einer interaktiven Lösung dieses Problems der Vergänglichkeit gearbeitet. „Wir hatten die Idee, dass wir Frau Kajimoto und andere noch lebende Zeitzeuginnen interviewen, sie dabei aufzeichnen und dann lebensgroß in Bewegung zeigen, um eine realistische Gesprächssituation mit ihr zu ermöglichen.“

Als der Prototyp vorgestellt wird, sitzen die Journalisten vor einer Videowand, auf der die lebensgroße Yoshiko Kajimoto zu sehen ist. Sie ist nicht live zugeschaltet, stattdessen werden Aufnahmen von ihr aneinandergereiht, sodass es nur so aussieht, als wäre es eine lebendige Person. Sie bewegt sich, überschlägt die Beine, wischt sich Haarsträhnen aus dem Gesicht. Damit sie auch mit einem spricht, muss man durch ein Mikrofon eine Frage stellen.

Avatar der alten Dame beantwortet alle Fragen

„Haben Sie später, nach dem Krieg, geheiratet?“, fragt eine Reporterin. Frau Kajimoto hat verstanden. Sie schmunzelt. „Na ja“, fängt sie an, „meine Mutter wollte einen großen Mann für mich!“ Das sei der Verehrer der Tochter aber nicht gewesen. „Leider war er auch nicht so gut im Geldverdienen“, gibt sie zu. „Aber wir hatten eine tolle Beziehung.“ Ohnehin starb Kajimotos Mutter kurz nach der Explosion der Atombombe. So war die in der damaligen Zeit umso wichtigere Frage, ob die Eltern mit der Partnerwahl ihrer Tochter einverstanden wären, nur hypothetisch.

Nicht nur dies erfährt man vom sehr lebhaften Avatar der alten Dame auf der Videowand. Auf Nachfrage berichtet Yoshiko Kajimoto auch, wie ihr Leben unmittelbar vor und nach dem 6. August 1945 war. Als 14-jähriges Mädchen ging sie in die dritte Klasse der Mittelschule, arbeitete parallel in einer Fabrik, die Propeller für Kriegsflugzeuge herstellte. Als es an jenem Morgen plötzlich unglaublich hell wurde, habe sie sofort gedacht, es müsse eine Bombe sein. Da Yoshiko im Moment der Explosion gut zwei Kilometer vom Hypozentrum entfernt war, wurde sie nur kurz bewusstlos. Und als sie wieder aufwachte, trug sie eine verletzte Freundin zum nächsten Park – wo sie sah, dass die ganze Stadt verbrannt war.

„Die Fragen haben wir mit Schulklassen erarbeitet“, erklärt die US-Amerikanerin Elizabeth Baldwin, die Kajimoto über Jahre auf Vortragsreisen durch die USA begleitet hat und nun an der englischen Version der Zeitzeuginnen-KI arbeitet. „Bisher versteht sie nur Japanisch“, gesteht Baldwin. „Die Übersetzungen machen wir noch.“

Früher oder später soll die KI nämlich die 900 Fragen, die japanische Schüler der echten Frau Kajimoto über fünf Tage gestellt haben, in verschiedenen Sprachen beantworten. Noch aber stockt die alte Dame auch mal bei Fragen auf Japanisch. „Wann haben Sie begonnen, über Ihr Trauma zu sprechen?“, will ein Journalist wissen. Frau Kajimoto grummelt scheinbar verlegen vor sich hin. „Dies ist das Zeichen, dass die KI die Frage nicht verstanden hat“, unterbricht Seiko Ikuta, und bittet den Mann: „Können Sie es noch einmal anders formulieren?“

Es ist ein Problem, das sich mit zunehmender Interaktion, durch die die KI ihre Spracherkennung optimieren werde, von selbst erledigen soll. „Das Programm funktioniert bisher vor allem durch die Erkennung von Stichwörtern“, erklärt Ikuta. Beim Verstehen von Fragen werde die KI allmählich kreativer – nicht allerdings beim Beantworten. „Sie kann nur genau die Sätze antworten, die die wahre Frau Kajimoto bei den Aufnahmen eingesprochen hat.“ Ein Eigenleben – mit Antworten, die womöglich nicht der Realität entsprächen – soll also nicht entstehen.

Es gibt aber noch eine andere Herausforderung, mit der sich die Entwickler konfrontiert sehen: „Vor allem bei Kindern passiert es uns immer wieder, dass sie plötzlich sehr salopp sprechen, weil die Begegnung so authentisch wirkt.“ Die Probanden vergessen dann, so die Projektleiterin Seiko Ikuta weiter, dass es sich bei dem Avatar der alten Dame nicht um einen lebenden Menschen handle.

Grundsätzlich sei dies ja aber ein Beweis für die Raffinesse, mit der diese Verewigung von Yoshiko Kajimoto erarbeitet wurde. Und mit der sie noch viele Jahre die Fragen der Nachwelt wird beantworten können.