Ein Professor der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen sieht sich mit teils massiven Anschuldigungen mehrerer Studenten konfrontiert. Nun kritisieren die Betroffenen die aus ihrer Sicht unzureichende Aufarbeitung.
„Versagen auf ganzer Ebene“Mehrere Studenten beschuldigen Professor in NRW
War es falsch, das Schweigen zu brechen? Tim Weber kommt dieser Gedanke immer öfter, je länger er in dem kleinen Besprechungsraum im Präsidium der Westfälischen Hochschule sitzt. Seit fast vier Stunden stellen ihm drei Männer in Anzügen Fragen. Zwei von ihnen zweifeln an seinen Aussagen, versuchen ihn in Widersprüche zu verwickeln. Die Männer sind Anwälte, zwei von ihnen sind von dem Mann beauftragt, mit dem Weber sehr belastende Erinnerungen verbindet.
Lange hatte Weber gehadert. Doch dann kontaktierte er die Westfälische Hochschule Gelsenkirchen und berichtete von seinen Erlebnissen mit einem seiner Professoren. Der Mann habe ihn über Jahre hinweg bedrängt und sexuell belästigt. Weber war der Erste, es folgten viele weitere. Mehr als ein Dutzend junger Männer werfen dem Professor inzwischen vor, sie ungebührlich behandelt zu haben. Weitere Fälle sollen sich an einer anderen Hochschule zugetragen haben. Der Professor bestreitet die Vorwürfe.
Inzwischen hat Hochschulpräsident Bernd Kriegesmann eine Düsseldorfer Anwaltskanzlei beauftragt, den Fall aufzuklären. Doch statt Vertrauen wieder herzustellen, richtet das Verfahren noch mehr Schaden an. Exemplarisch zeigt der Umgang der Westfälischen Hochschule mit ihrem Fall, wie man mit Vorwürfen von mutmaßlichen Opfern von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung nicht umgehen sollte. So sieht es Tim Weber.
Deswegen hat er entschieden, seine Geschichte zu erzählen. Er will sich nicht mehr verstecken. Sein richtiger Name darf nicht öffentlich genannt werden, weil dann auch sein Studiengang und damit sein ehemaliger Professor nicht mehr anonym wäre. Für den Professor gilt die Unschuldsvermutung.
Bewunderung und Verantwortung
Als Tim Weber beginnt, an der Westfälischen Hochschule zu studieren, ist er schüchtern und unsicher. „Ich habe damals schnell an mir gezweifelt“, sagt er heute. Für Weber ist die Welt der Hochschule fremd. Er kommt aus einer kleinen Stadt, hat dort nach dem Abi gearbeitet. Lange traute er sich nicht, sein Umfeld zu verlassen.
Im zweiten Semester lernt Weber den Professor kennen. Er ist beeindruckt von der Wortgewandtheit und Selbstsicherheit, fühlt sich geschmeichelt, als der Professor ihm Aufmerksamkeit schenkt. Immer öfter fragt der deutlich ältere Mann den Studenten nach seiner Meinung, gibt ihm verantwortungsvolle Aufgaben. „Ich habe ihn als Förderer und Mentor gesehen“, sagt Weber heute. „Als jemandem, dem ich vertrauen kann, der mir zuhört.“
Der Kontakt wird intensiver. Irgendwann habe der Professor angefangen, ihn regelmäßig in sein Büro einzuladen oder ihn – manchmal spätabends – auf dem Handy anzurufen, sagt Weber. In den Gesprächen geht es schon bald nicht mehr nur um die Uni, sondern auch um Privates. Und dabei bleibt es nicht. Der Professor, so sagt es Weber heute, habe ihn in seine Privatwohnung eingeladen. Dort habe der Professor ihn unsittlich berührt und sogar in sein Bett eingeladen. Der Student habe abgelehnt und auf der Couch übernachtet. Weber hat dabei ein mulmiges Gefühl. Er verdrängt, spricht aus Scham mit niemandem darüber. Aber genauso fürchtet er Konsequenzen für sein Studium.
Ein halbes Jahr später, 2019, beschließt er, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Weber geht es nicht gut, nach einer großen Reise stellt er sein Leben auf den Prüfstand. Dabei wird ihm klar, dass die Erlebnisse mit dem Professor ihn tiefer beschäftigen. Als er zum ersten Mal seiner damaligen Freundin davon erzählt, beginnt er zu weinen. „Plötzlich kam alles wieder hoch“, sagt er heute. Weber wendet sich an eine Psychologin der Westfälischen Hochschule, er schreibt 2019 ein Gedächtnisprotokoll seiner Erfahrungen und schickt es an die Hochschulleitung. „Mit meinem Protokoll wollte ich andere Kommilitonen schützen“, sagt Weber. Mehrfach habe er damals mit Hochschulpräsident Bernd Kriegesmann gesprochen. Aus Webers Sicht ändert sich jedoch nichts.
Immer mehr Studenten meldeten sich
Kriegesmann sieht das anders. Es seien damals „sowohl mit dem Studierenden als auch der beschuldigten Person (Dienst-)Gespräche geführt (worden), um den Sachverhalt aufzuklären“, erklärt er in einer Stellungnahme. Auch weitere Ermittlungen seien durchgeführt worden, es habe sich allerdings kein weiterer Betroffener gemeldet. „Auf dieser Basis wurden nach damaligem Stand die dienstrechtlichen Maßnahmen ausgeschöpft.“
Auch Weber glaubt zu dieser Zeit noch, allein zu sein. Aber immer wieder gibt es Gerüchte. Im Jahr 2022 meldet sich schließlich ein weiterer Student beim Hochschulpräsidenten. Weitere folgen. Ihre Schilderungen klingen sehr ähnlich wie die Erlebnisse von Weber. Einer spricht davon, dass der Professor ihn eine Zeit lang fast täglich über Whatsapp kontaktiert und ihn mitunter über sein Sexualleben ausgefragt habe. Ein weiterer beschreibt, der Professor habe nach einem Uni-Kneipenabend bei ihm auf dem Sofa übernachtet. Der Professor habe, nur in Boxershorts bekleidet, auf eine Umarmung des Studenten bestanden. Alle Vorwürfe werden von den Anwälten des Professors bestritten.
Die Hochschule weiß spätestens Ende 2022, dass es gewichtige Vorwürfe gegen ihren Professor gibt. Doch nach außen scheint weiterhin nichts zu passieren. Einige Betroffene sind zutiefst frustriert und sprechen mit Journalisten, im April 2023 wird der Fall schließlich öffentlich. Daraufhin äußert sich Hochschulpräsident Kriegesmann erstmals öffentlich: Grundsätzlich dulde die Hochschule keine Art von Diskriminierung. Seit Mitte Februar 2023 sei der beschuldigte Professor vorläufig von allen Dienstaufgaben freigestellt worden. Gegen ihn sei ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden.
Im Rahmen dieses Verfahrens versucht die von der Hochschule beauftragte Düsseldorfer Anwaltskanzlei nun die Sachverhalte aufzuklären. Viele Betroffene haben in den vergangenen Monaten Post bekommen, auch Tim Weber. „Einladung zur Zeugenvernehmung“ steht demnach über dem Schreiben. „Ich weise Sie darauf hin, dass Sie verpflichtet sind, als Zeuge in diesem Verfahren auszusagen, sofern Sie nicht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht verweisen können“, schreibt der Anwalt. „Eine entsprechende Belehrung – auch zur Wahrheitspflicht – wird im Termin erfolgen.“
Aufforderung zur Befragung an Betroffene
Die Einladung bleibt nicht die einzige Merkwürdigkeit und der einzige Affront gegen die mutmaßlichen Opfer. Als Weber zur Vernehmung kommt, sitzen zu seiner Überraschung neben dem Anwalt der Hochschule und einer Protokollantin zwei weitere Männer in dem Besprechungsraum der Hochschule: die Anwälte des Professors. Weber bemerkt schnell, dass vor den Anwälten sein Gedächtnisprotokoll der Vorfälle liegt, das er eigentlich vertraulich für die Hochschulleitung geschrieben hatte.
Offenbar konnten sich die Anwälte mit dem Protokoll auf die Befragung vorbereiten. Die Anwälte des Professors hätten nun Passage für Passage seiner Aussagen von damals vorgelesen, sagt Weber. „Die haben mich massiv unter Druck gesetzt.“ Er wundert sich, dass weder ein Opferschutzbeauftragter noch eine Vertretung der Hochschule in dem Gespräch sind.
Hochschulpräsident Kriegesmann verweist auf das Landesdisziplinargesetz. Demnach sei es „das Recht des Beschuldigten, sich jederzeit einer oder eines Bevollmächtigten oder eines Beistandes zu bedienen.“ Die Rechtsvertreter dürften auch an Vernehmungen von Zeugen teilnehmen. Auf die Fragen, warum die Zeugen vorher nicht über die Anwesenheit der Anwälte informiert wurden, antwortet er nicht.
Besonders das Ende empfindet Weber als unangenehm. Die Anwälte des Professors wollen offenkundig herausfinden, wie die Vorwürfe an die Öffentlichkeit gelangt sind. Sie hätten Fragen gestellt, welche Journalisten er kenne und ob er mit denen gesprochen habe, sagt Weber. Am Ende des Gesprächs sei er „gebeten“ worden, mit keinem Beteiligten über die Vernehmung zu sprechen.
Weber ist nicht der Einzige, der sich über das Vorgehen der Hochschule wundert. Weitere Betroffene, die ein Gedächtnisprotokoll bei der Hochschule eingereicht haben, wurden zur Vernehmung geladen. Ihre Schilderungen zum Ablauf der Befragungen decken sich mit denen von Weber.
Tim Weber fühlt sich alleingelassen von der Hochschule, von den Anwälten nicht ernst genommen. Für ihn ist das Verfahren der Hochschule ein „Versagen auf ganzer Ebene“. Er beschließt, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. „Die Studenten werden nicht genug gesehen, sie werden nicht geschützt. Das muss sich ändern.“
NRW-Politik stellt Prüfung in Aussicht
NRW-Wissenschaftsministerin Ina Brandes (CDU) ließ am Wochenende durchblicken, dass sich die Westfälische Hochschule auf eine Prüfung der Vorkommnisse einstellen muss. „Ich bedauere sehr, dass sich die jungen Menschen von der Fachhochschule in Gelsenkirchen enttäuscht fühlen. Hochschulen müssen Orte sein, an dem sich Studentinnen und Studenten sicher und gut aufgehoben fühlen. Wir werden uns genau anschauen, was abgelaufen ist“, sagte Brandes auf Nachfrage unserer Redaktion. Weil es sich um ein laufendes Verfahren handele, dürfe sich die Landesregierung aber zum konkreten Fall nicht äußern, ergänzte sie.
Auch im Landtag lösen die neuen Enthüllungen Bestürzung aus. Julia Eisentraut, Sprecherin Wissenschaft der Grünen Landtagsfraktion, sagte: „Die genannten Vorwürfe müssen gründlich aufgeklärt werden. Wir haben bereits im Frühjahr bei Bekanntwerden der ersten Vorwürfe deutlich gemacht, dass wir eine Kultur der Sensibilisierung und Aufklärung an den Hochschulen wollen und dafür notwendige Reformen unterstützen. Betroffene sollen an allen Hochschulen in Nordrhein-Westfalen ohne Angst ihre Fälle melden und anzeigen können und Unterstützung bei der Aufarbeitung erfahren. Für dieses Ziel werden wir uns weiter engagieren.“ (kf)