Ein Flugzeug mit 298 Menschen an Bord wurde am 17. Juli 2014 über der Ostukraine abgeschossen. Vier Personen werden angeklagt, am Donnerstag soll in Amsterdam das Urteil verkündet werden.
Flug MH17Wie Angehörige der Opfer bis heute leiden
Diese Geschichte beginnt mit dem abrupten Ende einer Reise. Einer Reise von Amsterdam nach Kuala Lumpur, die kurz nach 12 Uhr mittags am 17. Juli 2014 auf Startbahn 36C am Flughafen Schiphol ihren Anfang nimmt. Und die um 16.20 Uhr im Himmel über der Ostukraine jäh abbricht. Es ist die Geschichte von Flug MH17, einer gewöhnlichen Passagiermaschine, in der an diesem Nachmittag 298 Menschen ihr Leben verlieren. Wobei das Wort „verlieren“ die Umstände nicht wirklich trifft. Sie wurden abgeschossen, 10000 Kilometer über dem Boden. Einfach so.
Drei Wochen später meldet sich die Polizei bei Hans de Borst im niederländischen Örtchen Monster mit „guten Nachrichten“, wie es die Beamten nennen. Die Leiche seiner Tochter sei endlich identifiziert worden. Elsemiek, 17 Jahre alt, getötet auf dem Weg in den Urlaub mit ihrer Mutter, dem Stiefvater und Stiefbruder. Sie träumte davon, ein Ingenieursstudium aufzunehmen, und geriet stattdessen, ohne es zu ahnen, zwischen die Fronten. „Ich habe das Gefühl, dass meine Tochter im Krieg umgekommen ist“, sagt der heute 60-jährige Vater. Jener Krieg in der Ukraine, der in Wahrheit vor mehr als acht Jahren mit Russlands Annexion der Krim begonnen hat, aber erst nach dem diesjährigen 24. Februar die westliche Gemeinschaft endgültig zur politischen und wirtschaftlichen Abkehr von Präsident Wladimir Putin bewegte. „Nun wurde die Welt wachgerüttelt“, so de Borst.
Die Trauer um sein einziges Kind hat sich in den Gesichtszügen des hageren Niederländers eingeprägt. Immer wieder fasst er sich während des Gesprächs an das Band seiner Uhr, in das der Insignien-Ring seiner Tochter eingearbeitet ist. „Els“, steht in geschwungener Schrift auf dem Gold eingraviert. Elsemiek trug das Schmuckstück ihrer Großmutter noch, als sie in der Ostukraine gefunden wurde. „Hoffentlich führen die aktuellen Ereignisse dazu, dass die Öffentlichkeit auch MH17 nicht vergisst“, sagt de Borst. Es ist seine größte Angst.
Drei Russen und ein Ukrainer
Weniger sorgenvoll blickt er diesem Donnerstag entgegen. Dann wollen die niederländischen Richter ihr Urteil im Prozess gegen die vier mutmaßlichen Verantwortlichen verkünden. Die drei Russen Igor Girkin, Sergej Dubinski und Oleg Pulatow sowie der Ukrainer Leonid Chartschenko waren nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft als Teil der prorussischen Separatisten maßgeblich daran beteiligt, die Boden-Luft-Rakete in die Ostukraine zu transportieren. Mit ihr wurde die Boeing der Gesellschaft Malaysia Airlines nach Erkenntnissen des internationalen Ermittlerteams JIT, zu dem sich Behörden aus den Niederlanden und Malaysia, zudem aus der Ukraine, Australien und Belgien zusammengeschlossen haben, vom Himmel geholt.
Am 9. März 2020 hatte der Prozess nur unweit des Amsterdamer Flughafens Schiphol in einem Justizkomplex begonnen. Drinnen, in einem der Gerichtssäle des grauen Zweckbaus, versammelten sich an jenem Montag Angehörige, Ermittler, Anwälte, Richter und Presseleute zum ersten Mal. Drei Fragen sollten geklärt werden: Handelte es sich bei der Waffe tatsächlich um das Luftabwehrsystem vom Typ BUK und woher stammte es? Wurde die Rakete von einem landwirtschaftlichen Feld nahe der Stadt Perwomajskyj abgefeuert, die zu dieser Zeit von prorussischen Kämpfern kontrolliert wurde? Und: Sind die Angeklagten schuldig oder nicht? Die Staatsanwaltschaft hatte im vergangenen Dezember gefordert, die vier Männer in Abwesenheit zu lebenslanger Haft zu verurteilen. Sie leben auf freiem Fuß in Russland und weigerten sich, in Holland vor Gericht zu erscheinen. Nur Pulatow ließ sich von Anwälten vertreten.
Staatsanwältin rückte die Opfer in den Fokus
Bevor die Ermittlungsergebnisse präsentiert wurden, hatte die Staatsanwältin Dedy Woei-a-Tsoi die Opfer in den Fokus gerückt. In die Stille des vollen Saals hinein verlas sie zum Auftakt der ersten Anhörung die Liste der Namen – einen nach dem anderen: Wan Amran Bin Wan Hussin; Eugene Choo Jin Leong. Ahmad Hakimi Hanapi. Gefühlt ging es ewig so weiter. Elsemiek de Borst... Alexander Ploeg, Robert Ploeg... 19 lange Minuten dauerte das so qualvoll bewegende Verlesen. Wochenlang hatte sie die Aussprache der Namen geübt, nun machte Woei-a-Tsoi aus der anonymen Zahl 298 wieder Menschen, erinnerte an all jene, die in dieser verdammten Ungerechtigkeit zumindest im Tod Gerechtigkeit erfahren sollten. Väter, Töchter, Ehefrauen, Söhne, Großeltern, Freundinnen, Brüder, Nichten, Enkel. Menschen, die Träume hatten und Pläne und Hoffnungen.
Mindestens genauso wichtig waren im Verlauf des Prozesses die abgefangenen Handytelefonate der Angeklagten, die Video- und Fotobeweise, das forensische Material. Die Beweislast sei so groß, sagt de Borst, dass das Urteil nur zu Gunsten der Kläger ausfallen könne. „Damit könnten wir zumindest für diesen Teil etwas Ruhe finden.“ Der Niederländer hofft, dass die Männer schuldig gesprochen werden als symbolisches Gesicht der Tat, dass die internationale Welt das Urteil anerkennt, dass sich das Recht durchsetzt. „Die wirklichen Antworten sind ohnehin in Russland, und die bekommen wir nicht.“
Viele Angehörige leiden bis heute unter den Folgen
Putins Regierung bestreitet jegliche Beteiligung an der Tragödie und beschränkte sich darauf, mit bizarren Falschmeldungen Zweifel zu säen. Zudem erlebten die Hinterbliebenen viel Gleichgültigkeit, sagt Piet Ploeg. 68 Prozesstage gab es insgesamt, bei 65 Anhörungen saß der Niederländer in den Zuschauerreihen. Als Trauernder, Ploeg verlor bei dem Desaster seinen Bruder, seine Schwägerin und seinen Neffen. Und als Vorstand der Stiftung, zu der sich die Familien der Opfer zusammengeschlossen haben. Viele von ihnen schilderten vor Gericht, wie sie in Folge des Unglücks ihren Job verloren haben, ihr Unternehmen, ihre Ehe. Wieder andere leiden bis heute unter schweren psychischen Problemen.
Ploeg hörte auch dann noch zu, wenn viele andere keine Kraft mehr für das ganze Leid haben. Er durchforstet seit Jahren das Internet, damit Mit-Betroffene die schlimmen Bilder nicht sehen müssen. Aber selbst Ploeg gerät an Grenzen. Die separatistische Seite habe während des Verfahrens keinerlei Respekt oder Empathie gezeigt. „Ich kann nicht verstehen, dass sie noch stolz darauf sind, ein Flugzeug abgeschossen zu haben.“ Die Russen sprächen über das Leben von Menschen, als ginge es um Fliegen, sagt auch de Borst, und schüttelt den Kopf.
Noch während die auf einer riesigen Fläche von 35 Quadratkilometern verstreuten Wrackteile Stunden nach dem Unglück rauchten und dampften, gingen verstörende Aufnahmen um die Welt. Es waren Szenen wie aus der Apokalypse. Von Leichenteilen und Toten, manche noch in ihren Sitzen angeschnallt, die in Feldern von meterhohen Sonnenblumen lagen, in Wäldern oder gar auf dem Dach von Anwohnern, von Flugzeugtrümmern, die aussahen wie zerknülltes Papier, von im Dreck gelandeten Zeugnissen von Normalität: ein angelesener Reiseführer „Bali & Lombok“, zerfledderte Groschenromane, sorgfältig ausgedruckte Hotelbuchungen, verkohlte Kleider oder halb ausgedrückte Zahnpasta-Tuben, die aus den Koffern fielen.
Ein Bild brannte sich als besonders abscheulicher Beleg der Katastrophe ins Gedächtnis vieler Menschen ein und wirkt merkwürdig aktuell angesichts des brutalen Vorgehens des Kremls in der Ukraine. Auf dem Foto posiert ein prorussischer Separatist für die Kameras, in der linken Hand Waffe und Zigarette, mit der rechten hält er einen schwarz-weißen Plüschaffen in die Höhe.
80 Kinder waren unter den Toten
80 Kinder waren unter den Toten. „Solche Fotos und Videos zu sehen, tut wirklich weh“, sagt Ploeg. Die erneute Invasion der Russen in die Ukraine habe dieses Jahr auch den Abschuss wieder so viel näher gebracht. „Mit den Nachrichten über den Krieg sind die Angehörigen täglich damit konfrontiert.“ Der Niederländer wechselt oft die Rollen, wenn es zu persönlich wird. Dann spricht er von „den nächsten Angehörigen“ anstatt in der ersten Person zu reden. „Ich helfe niemanden, wenn ich weine.“ Zu Hause bei ihm nahe Utrecht stapeln sich die Ordner mit Tausenden Dokumenten, er bereitet sich seit Wochen auf alle möglichen Szenarien vor, die am Donnerstag eintreten könnten. „Das Urteil ist ein Meilenstein für die nächsten Angehörigen“, so Ploeg. „Sie können danach versuchen, ihr Leben weiterzuleben.“ Sie. Und er.
Vor Kurzem feierte Ploeg seinen 64. Geburtstag. Sonst rief stets sein Bruder als erster Gratulant an. „Ich vermisse das“, sagt Ploeg, der bei Flügen bis heute nicht in den Reihen 18 und 19 sitzen kann. Dort, wo die Familienmitglieder starben. „Ich weiß, es ist Unsinn und irrational.“ Er lacht fast etwas beschämt auf. Umso näher der Urteils-Termin rückt, desto mehr wächst bei ihm die Anspannung. Und doch wissen er und die anderen um den Rückhalt aus der Bevölkerung wie auch die Unterstützung der Regierung. 196 der 298 Ermordeten stammten aus den Niederlanden. „Es war unser 9/11“, sagt Hans de Borst. Das Unglück ist tief in die Psyche der holländischen Gesellschaft gedrungen. Als wenige Wochen nach dem Abschuss die Särge mit den ersten sterblichen Überresten in Eindhoven landeten und diese von Soldaten in schwarze Leichenwagen getragen wurden, schoss de Borst der Gedanke durch den Kopf, dass die militärische Ehrenzeremonie „sehr schön“ für die Familien organisiert sei. Bis er realisierte, dass er zu eben diesem Trauerkreis gehörte – gestützt von einer ganzen Nation. „Wir sind ein kleines Land und jeder hat alles getan, uns zu helfen.“ Es herrscht Dankbarkeit statt Wut.
Jedes Jahr trifft sich Hans de Borst am Geburtstag seiner Tochter mit deren Freunden zum Essen. Die sind heute Biologen und Ärzte und denken über Familiengründung nach. „Wenn ich dann abends nach Hause komme, muss ich ein bisschen weinen“, sagt de Borst. Er klopft sich mit der Hand auf die rechte Brust, als wolle er damit den Schmerz lösen. Trotzdem, er will von Elsemiek erzählen, in Erinnerungen schwelgen, etwa wie sie gemeinsam skifuhren. „Wenn die Leute nicht mehr über Elsemiek sprechen, ist sie wirklich tot.“