AboAbonnieren

Expertin im InterviewWas treibt sehr junge Menschen zu Gewalttaten oder Mord?

Lesezeit 5 Minuten
Ein Kind versteckt sein Gesicht unter seinen Armen und liegt mit dem Kopf auf einem Tisch.

Was treibt Kinder und Jugendliche zur Gewalt an anderen Kindern? (Symbolbild)

Nach dem Vorfall in Freudenberg wird die Frage laut, warum werden Kinder zu Gewalttäter? Darüber sprach Caroline Raab mit einer Professorin für Psychologie und Psychotherapie.

Was treibt sehr junge Menschen zu Gewalttaten oder, wie jüngst im Fall Luise aus Freudenberg, sogar zu Mord? Carolin Raab sprach darüber mit Charlotte Hanisch, Professorin für Psychologie und Psychotherapie an der Uni Köln.

Warum werden Kinder und Jugendliche überhaupt zu Gewalttätern und in Extremfällen sogar zu Mördern?

Charlotte Hanisch: Das liegt an einer komplexen Kombination aus vielen Faktoren, die zusammenspielen. Es gibt immer die Vorstellung, man könnte eine einfache Erklärung für so ein Verhalten finden, aber die gibt es nicht. Viele Dinge spielen da eine Rolle: Welches Temperament bringt eine Person mit, wie geht jemand mit Frustration um, wie sieht das Umfeld aus, welche Erfahrungen macht jemand im Leben? Auch psychische Gesundheit und das Selbstwertgefühl sind von Bedeutung.

Kann es sein, dass jugendliche Gewalttäter vor einer Tat nie auffällig werden und es keine „Warnzeichen“ gibt, die das Umfeld wahrnehmen könnte?

Ich finde es nicht richtig, sich im Fall Freudenberg ohne Kenntnis aller Einflussfaktoren oder Bedingungen mit irgendwelchen Hypothesen auf die involvierten Personen zu stürzen. Die Entwicklungen, die zu so einer Tat führen, sind immer langfristig. Das Problem mit sogenannten Warnzeichen ist, dass sie nie eindeutig sind. Es ist schwer, im Vorfeld Prognosen anzustellen. Denn das, was man als auffällig wahrnehmen könnte – etwa, dass sich jemand plötzlich zurückzieht, starke Stimmungsschwankungen hat oder aggressives Verhalten zeigt – könnte sich in verschiedene Richtungen entwickeln.

Welche vorbeugenden Maßnahmen gibt es, wenn jemand dann solches Verhalten zeigt?

Ich selbst bin Kinderpsychotherapeutin, und dort sprechen wir immer von multimodaler Prävention. Das heißt, dass wir an verschiedenen Ebenen ansetzen: bei den Kindern und Jugendlichen selbst, aber auch bei ihrem Umfeld, etwa Eltern und Lehrkräften, weil es zwischen allen Ebenen eine Wechselwirkung gibt. Man kann dann zum Beispiel trainieren, wie man sich in jemand anderen hineinversetzt oder wie man mit den eigenen Gefühlen umgeht. Wir schauen auch, wie es in der Schule aussieht und wie etwa das Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Klasse ist. Prävention ist dann besonders wirksam, wenn wir all diese Systeme und das Kind selbst erreichen, und das möglichst früh, idealerweise schon im Kita-Alter. Ich bin auch dafür, dass Schulen sich Themen wie mentaler Gesundheit mehr öffnen.

Und was passiert, wenn jemand eine Gewalttat begeht, der noch nicht strafmündig ist und deshalb nicht belangt werden kann?

Hier geht es weniger um Strafe, sondern es braucht natürlich Konsequenzen und dann aber in erster Linie Unterstützung und Erziehungsmaßnahmen, mit denen ein anderes Verhalten gelernt werden und es eine positive Veränderung geben kann. Dafür gibt es das Jugendhilfesystem oder auch uns als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie oder die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Solche extremen Fälle wie in Freudenberg sind zum Glück sehr selten. Es gibt bei der Aufarbeitung aber kein Patentrezept mit so etwas umzugehen, sondern man muss bei der Hilfeplanung vom individuellen Fall, den Umständen und der Person ausgehen.

Durch den Fall Luise wird darüber diskutiert, die Strafmündigkeit auf zwölf Jahre abzusenken. Halten Sie das für sinnvoll?

Nein, ich glaube nicht, dass das eine Lösung ist. Die Vorstellung dahinter ist ja, dass eine Strafe abschreckend auf mögliche Täter wirken würde. Ich würde aber immer den Schwerpunkt auf Prävention setzen und darauf, die positiven Verhaltensweisen, die wir haben wollen, zu fördern. Strafen sind auch nicht unbedingt förderlich für eine Wiedereingliederung junger Menschen in die Gesellschaft. Aus Perspektive der Geschädigten kann ich den Wunsch nach Strafe und Wiedergutmachung natürlich sehr gut nachvollziehen.

Kann die Familie eines Täters nach so einer schrecklichen Tat wie in Freudenberg überhaupt wieder zusammenwachsen?

Das ist sicherlich sehr schwierig. Natürlich hinterlässt das Narben, die sich in die Biografien aller Betroffenen einbrennen und nie wieder weggehen. Aus therapeutischer Sicht hofft man dann immer nur, Linderung schaffen zu können, damit es irgendwie weitergeht und die Betroffenen lernen können, mit den Narben zu leben.

Könnte die Strafmündigkeit ab 14 Jahren nicht wie eine Einladung wirken, weil jugendliche Täter wissen, dass ihnen unterhalb dieser „Grenze“ keine Strafe droht? (Im Fall Freudenberg hatten sich die beiden Mädchen ja angeblich im Vorfeld darüber informiert.)

Es fällt mir schwer mir vorzustellen, dass eine solche Tat von Kindern oder sehr jungen Jugendlichen so berechnend geplant wird. Wir würden ja gerade davon ausgehen, dass es so jungen Menschen weniger gut gelingt, langfristige Konsequenzen auf allen Ebenen zu betrachten. Jugendliches Verhalten ist eher vom Moment und von der Bewertung durch Gleichaltrige und weniger durch Normen, gesellschaftliche Werte oder das Abwägen langfristiger Folgen beeinflusst.

Wenn ein so seltener Extremfall eintritt wie in Freudenberg: Kann man Aussagen darüber treffen, warum sehr junge Menschen jegliche Gewalthemmung ablegen und eine zuvor geplante (!) Tat mit solch brutaler Konsequenz ausführen?

Wie gesagt: ich weiß so wenig über die individuellen Geschichten und Zusammenhänge, dass ich hier mutmaßen würde, wie diese Katastrophe entstanden ist. Wenn eine Situation völlig eskaliert, können so extrem starke Emotionen entstehen, dass sie Verhalten völlig abseits von rationalen Überlegungen leiten. Dass Kinder oder so junge Jugendliche völlig kalt und berechnend handeln, wie das der Bericht von einer ‚geplanten Tat‘ vielleicht nahelegt, halte ich für sehr unwahrscheinlich.


Zur Person

Charlotte Hanisch ist Professorin für Psychologie und Psychotherapie im Department Heilpädagogik und Rehabilitation an der Universität zu Köln. Sie ist außerdem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Seit 2016 leitet sie die Psychotherapieambulanz für Kinder und Jugendliche an der Universität. (crb)