Diskussion mit Ferdinand von Schirach„Es kommt mir vor, wie ein seltsamer Wachtraum“
- 19 Tage nachdem die WHO die Ausbreitung eines neuartigen Coronavirus zu einer Pandemie erklärt hatte, unterhielten Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge sich über die Coronakrise und die Folgen für die Demokratie.
- Bestsellerautor der eine, Filmemacher der andere, beide sind sie Juristen.
- Mit Schirach sprach Anja Pasquay über bürgerliche Freiheit und Verantwortung
Wertediskussion in Zeiten von Corona: Gespräch mit Ferdinand von Schirach zum Tag der PressefreiheitDer Anspruch auf WürdeFerdinand von Schirach (Michael Mann)Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit hat Olafur Eliasson ein Kunstwerk mit dem Titel „Weltlupe“ geschaffen, das den Akt des Lesens als ein Zusammentreffen von Journalist, Text und Leser in den Fokus nimmt. (Eliasson)
Neben dem Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit gehört zu den ersten Artikeln des Grundgesetzes auch das Recht auf Versammlungsfreiheit. Dieses Recht kann im Moment praktisch nicht ausgeübt werden; Demonstrationen gegen die CoronaVerordnungen würden sofort unterbunden. Ist das verfassungsrechtlich überhaupt gedeckt?
Unsere Grundrechte werden eingeschränkt, ja, aber das lässt die Verfassung in solchen Fällen zu. Dennoch, die Kanzlerin hat recht: Das Virus ist eine Zumutung für die Demokratie. Das Ganze ist etwas kompliziert. Vereinfacht gesagt muss jede Maßnahme, die Grundrechte einschränkt, verhältnismäßig sein. Das ist sie, wenn sie vier Voraussetzungen erfüllt: Sie muss einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein. Legitim ist ein Zweck, wenn er mit den Werten des Grundgesetzes übereinstimmt. Nun ist das Leben von Menschen zu retten sicher ein legitimer Zweck. Aber das reicht nicht. Jedes Jahr sterben Tausende bei Autounfällen. Stellen Sie sich vor, ein Politiker will das verhindern. Er schlägt deshalb vor, allen Menschen die Fahrerlaubnis zu entziehen. Sein Ziel – das Leben von Menschen zu schützen – ist auch legitim. Aber es ist in diesem Fall natürlich nicht angemessen. Wir können sogar sagen, Ausgangsbeschränkungen seien zur Bekämpfung der Pandemie geeignet – das Virus kann damit wohl zunächst eingedämmt werden. Das Problem liegt an anderer Stelle: Ist ein Ausgehverbot überhaupt erforderlich? Die Verfassungsrechtler definieren das so: Ein gewähltes Mittel ist dann erforderlich, wenn es keine mildere Maßnahme gibt, die denselben Erfolg mit gleicher Sicherheit erzielt. Und genau da wird es schwierig.
Zur Person
Der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach wurde 1964 in München geboren. Seit 1994 arbeitet er in Berlin als Anwalt und Strafverteidiger. 2009 publizierte er seinen Debütband „Verbrechen“, in dem er seine skurrilsten und unglaublichsten Fälle niederschrieb. (EB, Foto: M. Mann)
Warum?
Wir wissen nicht sicher, ob es nicht auch mildere Maßnahmen gibt, die genauso erfolgreich wären. Manche Virologen behaupten das ja, zum Beispiel die Wissenschaftler, die die schwedische Regierung beraten. Das ist auch völlig in Ordnung. Das Wesen der Wissenschaft ist nun einmal Streit, der Streit um die bessere Theorie. Wissenschaftliche Theorien müssen immer widerlegbar sein. Der Philosoph Karl Popper nennt es das „Kriterium der Falsifizierbarkeit“. Eine Theorie kann sehr gut sein, brillant sogar, aber sie ist niemals wahr. Sie ist nur im Moment noch nicht widerlegt. Und das ist für die verantwortlichen Politiker äußerst unangenehm: nach wem sollen sie sich richten? Wem sollen sie vertrauen? Ist das, was sie tun, zu viel? Ist es zu wenig? Sie sind in einem Dilemma. Ihnen wird das sofort klar, wenn Sie sich selbst in die Lage der Kanzlerin versetzen. Sie müssen sich letztlich nach Wissenschaftlern richten, die selbst recht offen sagen, sie wüssten noch nicht allzu viel. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Das Bundesverfassungsgericht hat das eben richtig entschieden: Wir dürfen natürlich demonstrieren, aber eben nur mit Auflagen (Masken, Abstand usw.). Es ist und bleibt, wie alles, eine Abwägung.
Wie soll die Politik jetzt handeln?
Viele glauben, unsere Verfassung sei nicht für solche Krisen gewappnet. Es sei die „Stunde der Exekutive“, wird immer wieder behauptet. Daher auch das Gerede vom „Krieg“, in dem dann ja anderes Recht gelten soll. Aber das ist Unsinn. Noch immer muss das Parlament entscheiden. Wir haben eine Gewaltenteilung, die auch in den Zeiten der Krise gilt. Nur bei einem militärischen Angriff auf die Bundesrepublik ist das anders. Unser Grundgesetz ist also eindeutig.
Aber das Leben muss doch auf jeden Fall geschützt werden.
Nein, so seltsam das klingt: Die Verfassung schützt das Leben nicht um jeden Preis. Wenn Sie noch einmal an den Politiker mit den Führerscheinen denken: Tote im Straßenverkehr nehmen wir in Kauf, weil wir wollen, dass Menschen Auto fahren dürfen. Wir setzen das Leben hier also ins Verhältnis zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Oder denken Sie an den Krieg: Wir erlauben Soldaten dort zu töten, wir fordern es sogar. Einzig die Würde des Menschen ist unantastbar. Es geht dabei – und das ist hier entscheidend – aber nicht nur um ein Leben in Würde, sondern auch um ein Sterben in Würde. Der Erstickungstod ist schrecklich, er ist grausam und äußerst brutal, der Patient bei Bewusstsein ist bis zum Schluss in Panik und Todesangst. Ein Mensch soll auch nicht alleine in der Stunde seines Todes sein, wenn er das nicht will. Wir müssen gerade dann den hilflosen Menschen schützen, seinen Anspruch auf Würde, auch auf einen würdigen Tod. Deshalb darf die Politik zu harten, sehr einschränkenden Maßnahmen greifen, bis das Gesundheitssystem in der Lage ist, alle Kranken menschenwürdig zu versorgen. Aber dann muss die Freiheit vollständig wiederhergestellt werden.
Ihr Blick auf unsere Gesellschaft im Krisenmodus: Sind wir vernünftig? Handelt die Regierung angemessen? Oder sind wir zu brav und müssten längst lautstark auf die Wiederherstellung aller Freiheiten pochen?
Unsere Demokratie ist nicht gefährdet, die Kanzlerin ist eine besonnene Frau, die Politiker sind in ihren Anstrengungen glaub- und vertrauenswürdig, die Maßnahmen sind zeitlich befristet. Aber es darf nicht zu lange dauern. Autoritäre Strukturen können sich verfestigen, die Menschen gewöhnen sich daran. Erosionen sind langsame Abtragungen, keine plötzlichen Ereignisse. Umso länger die Krise dauert, umso strenger muss geprüft werden, ob die Einschränkungen noch aufrecht erhalten werden müssen.
Kleine Fluchten: Was tun Sie, wenn Ihnen in Zeiten ausdrücklicher Ausgangsbeschränkung in Berlin die Decke auf den Kopf fällt?
Ich fahre nachts oft stundenlang durch das leere Berlin, diesen Anblick werde ich nie wieder vergessen. Die leeren Plätze, die dunklen Restaurants und Cafés, kaum Autos, manchmal ein Polizeiwagen, dann wieder Stille. In dem Film „Vanilla Sky“ fährt Tom Cruise morgens durch das vollkommen ausgestorbene New York. So kommt es mir vor, ein seltsamer Wachtraum. Ich war am Flughafen und am Bahnhof - es war erschreckend, unwirklich, falsch.
Spätestens seit Ihrem Buch „Kaffee und Zigaretten“ sind Sie Ihren Lesern auch als passionierter Raucher bekannt. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wegen Corona mit dem Rauchen aufzuhören?
Im Gegenteil. Le Corbusier, der Schweizer Architekt, schloss sich wegen der Spanischen Grippe – sie forderte 50 Millionen Tote – in seine Pariser Wohnung mit Unmengen von Zigaretten ein. Damals dachten die Ärzte, das Rauchen würde den Erreger abtöten. Das stimmte zwar nicht, aber Le Corbusier überlebte. Genau das versuche ich jetzt auch.
Das Gespräch zwischen Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach liegt seit Beginn dieser Woche als enorm unterhaltsames Büchlein mit dem Titel „Trotzdem“ vor.