Aufgehängt und ins Koma geprügeltDie Misshandlung russischer Soldaten

Russische Soldaten in Winteruniformen der Roten Armee.
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- Es wurden tödliche Zwischenfälle durch Misshandlung in russischen Militärstruppen publik.
- Es heißt, der Staat zahle den Familien verstorbener Soldaten Schweigegeld.
- Menschenrechtler beklagen den Mangel an Informationen, um die Grenze zwischen Körperertüchtigung und gewaltsamen Übergriffen zu bestimmen.
Nach offiziellen Angaben ist Gewalt im russischen Militär kein Thema mehr. Aber in jüngster Zeit wurden zum Teil tödliche Zwischenfälle publik, die Experten nur als Spitze des Eisberges betrachten.
Der Wehrpflichtige Sergei Safonow wurde im Oktober in einer Kaserne südlich von Kaluga gefunden, aufgehängt an einem Soldatengürtel. Anfangs hieß es, man habe den Toten im Dienstzimmer des Kommandeurs entdeckt, später war von der Latrine die Rede. Nach offiziellen Angaben beging er Selbstmord. Aber als Safonows Angehörige seinen Körper zum Begräbnis abholten, bemerkten sie, dass sein Gesicht stark geschminkt war. Unter der Schminke entdeckten sie blaue Flecken, später stellte ein Gerichtsmediziner auch Blutergüsse am Brustkorb und den Armen fest, typische Spuren für Schläge mit stumpfen Gegenständen und einen Kampf. Die Hinterbliebenen verlangen, dass ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes eingeleitet wird.
Ein ungeklärter Einzelfall
Sergei Safonow ist ein Einzelfall, ein ungeklärter dazu. So wie Wladislaw Orlow, Wehrpflichtiger der Nationalgarde „Rosgwardija“. Orlow landete im September im Koma auf der Intensivstation des Lomonowsker Kreiskrankenhauses im Leningrader Gebiet. Nach Angaben der Brigade, in der Orlow diente, verlor er das Bewusstsein bei einem Sparringkampf mit einem Offizier. Die Militärstaatsanwaltschaft ermittelt wegen schwerer Körperverletzung. Und es gibt noch schlimmere Fälle, die auf Gewalt und Angst hinter Russlands Kasernenmauern schließen lassen.
Ende Oktober tötete der Zeitsoldat Ramil Schamsutdinow in der Garnison Gorny am Baikalsee mit 58 Schüssen aus seinem Sturmgewehr acht Kameraden. Der Täter erklärte nach Angaben des Portals baza.io, Offiziere hätten ihm angekündigt, ihn abends zu vergewaltigen. Das Verteidigungsministerium sprach dagegen von einem „Nervenzusammenbruch aus persönlichen Gründen, die nichts mit seinem Militärdienst zu tun haben.“
Stolz auf Zucht und Ordnung
Verteidigungsminister Sergei Schoigu ist stolz auf Zucht und Ordnung in seiner Truppe. „In unserer Millionenarmee ist die Kriminalität eine ganze Größenordnung niedriger, als in jeder Millionenstadt“, erklärte er der Zeitung Moskowski Komsomoljez. „Und das ist trockene Statistik.“ Allerdings unterliegen seit 2015 alle Verlustzahlen strenger Geheimhaltung. Auch Smartphones und andere internettaugliche Geräte sind für Russlands Soldaten verboten. Menschenrechtler beklagen, es mangele der Öffentlichkeit an Zahlen und Informationen, um die Grenze zwischen Körperertüchtigung und gewaltsamen Übergriffen in der Truppe zu bestimmen. „Die Fälle, die publik werden“, sagt der Petersburger Rechtsanwalt Alexander Peredruk der Zeitung Kommersant, „sind die Spitze eines Eisberges.“ Und in letzter Zeit gäbe es wieder mehr Klagen.
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Die sogenannte Unterschleife, Terror und Schikanen zwischen den russischen Wehrpflichtigen, galt als Seuche der späten Sowjet-, dann der russischen Armee. „Schoigus Vorgänger Anatoli Serdjukow hat die Unterschleife in der Armee fast ausgemerzt “, sagt der Moskauer Militärexperte Alexander Golz unserer Zeitung. „Wenn ein Fall bekannt wurde, ließ er die Befehlshaber des betroffenen Truppenteils komplett entlassen.“ Schoigu aber sei mehr an spektakulären Erfolgen wie der Präsentation neuer Waffensysteme oder Auslandseinsätzen interessiert. Die alltägliche Ordnung in den Kasernen interessiere ihn viel weniger.
Beschwerden über jüngere Offiziere
Jetzt gibt es Beschwerden über jüngere Offiziere oder Berufssoldaten, die Rekruten drangsalieren, ihnen Geld, Bankkarten oder Handys abnehmen. Aber es gibt keine gesonderte Verbrechensstatistik über den Missbrauch von Amtsgewalt in der Armee. 2018 wurden wegen Verhaltens gegenüber Kameraden, das grob gegen die militärischen Dienstvorschriften verstößt, 547 Strafverfahren eröffnet, etwas weniger als im Vorjahr, und halb so viel wie noch 2013. Trotzdem sagt die Menschenrechtlerin Waleria Prichodkina dem Portal Rosbalt, die Unterschleife gehe permanent und systematisch weiter. Der Staat aber zahle den Hinterbliebenen getöteter Soldaten umgerechnet über 70.000 Euro. „Deshalb schweigen viele Familien.“
Und Experte Golz warnt, wie in den 90er Jahren könnten sich die Fälle häufen, in denen Wehrpflichtige Amok mit der Kalaschnikow laufen. „Das sind 18-jährige Jungs, ihnen mag eine Schießerei als Ausweg aus ihrem Hass und ihrer Verzweiflung erscheinen.“