Ausschreitungen zwischen Anhängern von Vereinen sind im Profi- und Amateurfußball keine Seltenheit. Regelmäßig eskaliert die Gewalt in und vor den Stadien. Warum gibt es dieses Phänomen vor allem im Fußballsport?
Gewalt auch gegen Ordner und PolizistenWas wird gegen Fangewalt in den Fußballstadien getan?
Höhnische Gesänge zwischen rivalisierenden Ultras. Aggressive Stimmung in den Fankurven. Nicht selten kommt es vor und in den Fußballstadien zu Gewalt. Oft sind es die sogenannten Risikospiele wie das Zweitliga-Nordderby Hansa Rostock gegen den Hamburger SV, die den Vereinsverantwortlichen und der Polizei Kopfschmerzen bereiten. Zuletzt eskalierte es beim Derby zwischen dem 1. FC Köln und Bayer Leverkusen Anfang März, als es zu Ausschreitungen zwischen den Fangruppen und auch mit der Polizei kam. Ein Ordner brach im Stadion bei einem Einsatz nach einem Faustschlag eines Fans bewusstlos zusammen. Auch ein Kind wurde durch abgebrannte Pyrotechnik verletzt (die Rundschau berichtete). Nach dem Spiel eskalierte ein Polizei-Einsatz wegen eins Streits dreier rivalisierender Anhänger: Eine Gruppe aufgeheizter Fans warf mit Pyrotechnik, Ästen, Steinen und Fahrrädern nach den Polizeibeamten.
Auch die verstörenden Bilder vom September 2022 aus Nizza sind noch präsent, als Fans des 1. FC Köln sich mit den Anhängern von OGC Nizza eine Massenschlägerei vor und im Stadion lieferten – mit Tritten ins Gesicht und dem Sturz eines Fans aus mehreren Metern Höhe. Haftbefehle wegen gefährlicher Körperverletzung und schwerem Landfriedensbruch waren damals die Folge.
Ist der Fußball ein Sport, der Gewalt anzieht? Warum sind in anderen Sportarten Gewaltübergriffe kein großes Thema? Und was tun die Verantwortlichen in den Vereinen, im Verband und in den Ländern und Kommunen gegen die Gewalt vor und in den Stadien? Die Rundschau hat nachgefragt.
Zieht der Fußball Menschen aus gewaltbereiten Szenen an?
In Teilen der Fanszene spielt Gewalt wieder eine größere Rolle, stellt Michael Gabriel fest. Er ist Leiter der Koordinationsstelle für Fan-Projekte in Frankfurt, die vom Bund, dem Deutschen Fußball-Bund und der Deutschen Fußball Liga finanziert wird. Gabriel und seine Kollegen beobachten in der heutigen Jugendkultur einen Trend zur Selbstoptimierung, was auch Auswirkungen auf die Fanszene habe.
„Bei vielen männlichen Jugendlichen gewinnt die Erreichung eines muskulösen Körpers oder das Training in Kampfsportarten wie bei ,Mixed Martial Arts' an Bedeutung.“ Bei Tritten in Kopfhöhe könne man davon ausgehen, dass diese antrainiert seien. Diese Form der Gewalt zu ahnden, sei Aufgabe der Polizei, so Gabriel. Man brauche aber vor allem unter den Fußballfans mehr Sensibilität und Einsicht, dass bei diesen Exzessen die Fan-Kultur insgesamt Schaden nehme. Teile der Fanszene seien aber nur schwer erreichbar und definieren sich stärker über Gewalt und Kampf.
Gibt es im Fußball mehr gewaltbereite Fans als in anderen Sportarten?
„Mit Blick auf die Zahlen, die wir so zur Verfügung haben, können wir sagen: Ja“, erklärt Harald Lange, Professor an der Universität Würzburg und Fan- und Fußballforscher. Der Fußball habe auf allen Ebenen ein Gewaltproblem, das unterscheide ihn von vielen anderen Sportarten. Dabei gebe es einen großen Unterschied zwischen Männer- und Frauenfußball.
„Das Gewaltproblem ist fokussiert auf den Männerfußball – sowohl im Profi- als auch im Amateurbereich“, so Lange. Grundsätzlich gelte: „Je mehr Menschen auf engstem Raum zur gleichen Zeit zusammenkommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Gewalt kommt“, sagt Lange. Das sei ein bedauerliches Phänomen, aber zum Beispiel bei großen Volksfesten sei Ähnliches zu beobachten.
Was kommt beim Fußball hinzu, das die Gewaltbereitschaft verstärkt?
„Die Zahlen sind schon alarmierend. Sie deuten darauf hin, dass auf der Werteebene in diesem Sport etwas in Schieflage geraten ist“, erklärt Lange. Ein ganz wichtiger Punkt sei unsere Erwartungshaltung. Ein tragender Wert sei dabei das Fair Play. „Da verbietet das Prinzip des Sports, dass es zu Gewalt kommt. Wir erwarten, dass das Spielgeschehen vom Gedanken des Fair Play getragen wird.“
Das werde bei den meisten Sportarten auch so gehandhabt. Der Fußball falle raus, auf dem Platz und auf den Stadionrängen ist das Verhalten nicht immer vom Fair Play bestimmt: „Auch im Fußball darf es das nicht geben, besonders im Kinder-, Jugend- und Amateurfußball.“ Der Fan-Experte appelliert, von anderen Sportarten zu lernen: „Letztlich ist es ein Wertethema: Was macht den Sport aus, was trägt den Sport?“
Was tun Fan-Projekte in den Vereinen, um Eskalationen zu verhindern?
„Wir arbeiten in der Fan-Szene mit jungen Menschen zwischen 14 und 27 Jahren, wobei die Männer in der Überzahl sind“, erläutert Gabriel. Was Sorgen bereite, ist, dass die Gruppen der gewaltbereiten, meist älteren Hooligans wieder mehr Zulauf von jüngeren bekommen. Die Gewaltfraktion verstecke auch ihre Präsenz nicht, wie man beispielsweise in den Stadien relativ leicht anhand ihrer Zaunfahnen erkennen könne.
Die Fan-Community sei aber auch ein Ort demokratischen Lernens, wo nicht nur Themen der Kurve diskursiv ausgehandelt werden, sondern wo man sich auch im Verein für Fan-näheren Fußball engagieren könne, so Gabriel. „Deswegen ist auch unsere pädagogische Arbeit in dem Bereich so wichtig und zielführend, weil die vielen jungen Leute auf diese Weise Selbstwirksamkeit erfahren.“
Welche Rolle spielen präventive Projekte in der Fan-Betreuung?
Die Projekte leisten soziale Arbeit in der Fanszene, hebt Gabriel hervor. „Wir beschäftigen uns mit den Problemen, die diese jungen Menschen mit ins Stadion nehmen. Wir sind nah dran, hören zu, beraten und vermitteln ihnen Hilfsangebote zum Beispiel bei Problemen in der Schule, mit Alkohol, Drogen oder Wettsucht, um nur einige zu nennen. Das ist unsere Kernarbeit.“
Wichtig sei, eine Beziehung und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Das aber dauere. Und nur dann könne man mit den Fans in der Kurve stehen oder bei Auswärtsfahrten mit dabei sein und dort vermitteln, wenn etwas schieflaufe, so Gabriel weiter. Das sei die Herausforderung.
Wie sollte die Polizei agieren, um weiter zu deeskalieren?
Es passiere Lange zufolge gegenwärtig viel Gewalt auch im Zusammenhang mit der Polizei (siehe unten). „Es gibt eine leicht eskalierende Spirale der Gewalt zwischen Fans und Polizei.“ Die Gesamtgemengelage sei hoch angespannt erklärt Lange. Es gebe permanente Schwierigkeiten, die vermeidbar seien. „Da ist viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl gefragt. Mit Blick auf meine Forschungstätigkeit weiß ich, dass die Polizei das kann. Meine Erwartung an die Einsatzleitung ist also entsprechend hoch.“
Gabriel nennt ein Beispiel: „Wenn wie jüngst nach dem Spiel Rostock gegen Hamburg die Fans auf der Heimfahrt im Zug von der Polizei kurz vor Hamburg gestoppt werden, um von allen die Personalien erkennungsdienstlich festzustellen, dann trägt das nicht zu einer konstruktiven Atmosphäre bei.“ Im Gegenteil: Das führe zu mehr Aggressionen. (Anmerkung der Red.: Die Bundespolizei suchte nach verdächtigen HSV-Fans wegen schwerer Gewalttaten). „Es gibt eine Fanhilfen-Initiative, die unter anderem eine Liste von Fällen erstellt hat, wo es nach Meinung der Fans zu überzogenen Einsätzen der Polizei gekommen ist.“ Diese Fälle seien zwar selten, sollten aber vermieden werden, so der Fanbetreuungsexperte.
Und wie soll die Polizei bei den sogenannten „Risikospielen“ agieren?
„Hier passiert im Vorfeld eine Menge“, stellt Gabriel heraus. „Vereinsvertreter, Fanbetreuer und Polizei sprechen im Vorfeld der Spiele miteinander und diskutieren die Lage.“ Die Fanbetreuer geben dann Informationen und Ansagen seitens der Polizei an die Fangruppen weiter, auch um Eskalationen vorzubeugen. Das habe sich bewährt.
Wie soll man sich verhalten, wenn man Gewalt im Stadion erlebt?
Gabriel ist in diesem Punkt sehr klar: „Auf keinen Fall sich selbst gefährden. Hier gilt, was auch im normalen Alltag gilt: Hilfe holen entweder beim Fachpersonal der Ordnungskräfte oder bei der Polizei.“
Die Rundschau hatte wegen der jüngsten Ausschreitungen beim 1. FC Köln angefragt, um mit Fan-Betreuern vor Ort über deren Arbeit zu sprechen. Die Vereinsführung lehnte dies jedoch ab.
Zahlen und Infos der Polizei NRW zur Fangewalt
Die ZIS (Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze) registriert und beobachtet bundesweit Fußball-Gewalttäter im Rahmen der Datei „Gewalttäter Sport“. Der Jahresbericht 2022/23 weist aus, dass die Polizeibehörden der Länder und des Bundes in den drei Profifußball-Ligen insgesamt 13 608 Fans ermittelten, die zur Gewalt neigen oder diese aktiv suchen (im Vergleichsjahr – vor Corona – 2018/19 waren es 234 weniger).
1176 Personen wurden 2022/23 aufgrund von Gewalthandlungen durch Fans verletzt (49 Mehr als 2018/19), darunter auch 220 Polizisten. Insgesamt wurden laut dem jüngsten Bericht 6549 Strafverfahren zu Delikten wie Körperverletzung, Widerstand gegen Polizeibeamte, Landfriedensbruch oder Sachbeschädigung eingeleitet. Dazu führten die Beamten mehr als 8100 freiheitsentziehende/-beschränkende Maßnahmen durch. 340 Stadionverbote waren in allen drei Ligen zusammen in Kraft.
Erstmalig wurden 2022/23 in Nordrhein-Westfalen (NRW) auch in den Amateurklassen unterhalb der Regionalliga West Gewaltstraftaten erfasst. Bei den rund 350 000 Begegnungen registrierte die Polizei NRW bei 226 Delikten insgesamt 371 Tatverdächtige – das entspricht einem Anteil von Spielen mit Gewalthandlungen im Bereich von 0,06 Prozent.
Die Deliktformen haben sich in den letzten zehn Jahren laut Polizeiangaben in NRW grundsätzlich nicht verändert. Stärker in den Fokus gerückt sind aber die Verstöße nach dem Sprengstoffgesetz (Zünden von pyrotechnischen Gegenständen), da diese zugenommen haben und ihre Gefahren zum Teil erheblich seien.
Die Grundlage für die Sicherheit bei Sportveranstaltungen bildet das Nationale Konzept Sport und Sicherheit (NKSS), das von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder bereits 1993 verabschiedet und 2012 fortgeschrieben wurde. Es enthält Empfehlungen zu den Handlungsfeldern Fanbetreuung im Rahmen von Sozialarbeit, Stadionordnung, Stadionverbote, Ordnungsdienste, Stadionsicherheit und Zusammenarbeit aller Beteiligten.
Auf der kommunaler Ebene sind in den Ländern unter anderem die sogenannten Örtlichen Ausschüsse Sport und Sicherheit (ÖASS) zu nennen. In diesem Zusammenhang ist die Polizei – neben weiteren Netzwerkpartnern – für die sichere Durchführung von Großveranstaltungen, zu denen auch Fußballspiele gehören, verantwortlich. In Bezug auf Einsätze bei Fußballspielen haben die für die Durchführung verantwortlichen Spielortbehörden verschiedene Einsatzkonzeptionen, unter anderem auch die sogenannten „Spiele mit erhöhtem Risiko“, bei denen mit Gewalteskalationen gerechnet wird.
Zur besseren Bekämpfung von Gewalt unter den Fußballfans findet zwischen den jeweils einsatzführenden Behörden und den Vereinen laut Polizei NRW vor, während und nach den Spielen ein regelmäßiger Austausch unter anderem in Form von Sicherheits- oder Kurvengesprächen statt.
Verschiedene Kommunikationsangebote haben sich zudem bewährt; jedoch nur in den Fällen, wo die Angehörigen der Fanszenen von den Gesprächsangeboten der Polizei und der übrigen Netzwerkpartner Gebrauch gemacht haben. Es sei bekannt, dass insbesondere Angehörige der Problemgruppen (vor allem aus der Ultrafanszene) die Gespräche mit der Polizei oftmals grundsätzlich ablehnen und rückblickend betrachtet diese bisher auch nur in Ausnahmefällen angenommen haben. (dhi/Polizei NRW)