Eine Momentaufnahme fürs Geschichtsbuch: Bundestrainer Julian Nagelsmann hat seinen Auftritt nach dem Ausscheiden Deutschlands für Ansagen genutzt, die weit übers Sportliche hinausgingen.
Nagelsmann nach dem EM-AusDie politische Botschaft eines Bundestrainers
Am Ende ist es meist ein Bild, das bleibt. Als Franz Beckenbauer sich bei der WM 1990 mit dem Titel krönte, spazierte der Teamchef auf einmal allein über den Rasen von Rom. Als der Berti Vogts bei der EM 1996 über ein Golden Goal jubelte, machte der Bundestrainer in Wembley plötzlich die Welle. Als Joachim Löw bei der WM 2014 nach dem Pokal griff, hatte der Fußballlehrer dem Goldjungen Mario Götze zuvor etwas ins Ohr flüstern müssen. Julian Nagelsmann hat die Sehnsucht von Fußball-Deutschland nach einem gekrönten Sommermärchen 2.0 nicht erfüllt, aber auch dieser Fußballlehrer hat eine Momentaufnahme fürs Geschichtsbuch hinbekommen. Ganz ohne Trophäe. Aber mit vielen Tränen.
Am Tag nach dem bittersüßen Ausscheiden gegen Spanien (1:2 n.V.) bei der EM 2024 trat ein Bundestrainer auf, der schluchzte und schluckte. Den die Gemeinschaft so berührt hat, dass er sich seiner Emotionen nicht schämte. „Wir hätten den Fans gerne mehr gegeben“, stammelte er, „und gerne den Titel geholt.“ Wenn mehr als 26 Millionen den Fernseher einschalten – eigentlich gefühlt das ganze Land irgendwo schaut – dann hat eine Nationalmannschaft tatsächlich vieles richtig gemacht. Sie kam gemeinhin überall als Einheit rüber und sendete damit ein gesellschaftliches Signal in zerstrittenen Zeiten. „Wir haben es geschafft, die Menschen zu einen", sagte der 36-Jährige. „Und ich hoffe, dass wir es auch nachhaltig hinkriegen, die Symbiose in weit wichtigeren Bereichen fortzusetzen.“ Da sprach einer, der von der Bedeutung seines Jobs erst nach und nach Kenntnis erlangte.
Ihrer Vorbildfunktion hätten die Protagonisten gerne noch eine weitere EM-Woche vorgeführt, was die vorzeitige Abreise aus der Wohlfühloase im Frankenland doppelt bitter machte. Noch nie hätten so viele Spieler geweint wie nach dem letzten Frühstück auf dem Homeground in Herzogenaurach, erzählte Nagelsmann – das hätten ihm langjährige Begleiter einer Mannschaft berichtet, die nach der WM in Katar so viel Identität stiftete wie zuletzt eigentlich die Weltmeistergeneration 2014.
Und das ist auch gleich das nächste Ziel des Überzeugungstäters, der – als er sich einigermaßen gesammelt hatte – streute: „Der goldene Pokal ist auch ganz hübsch in der Sammlung.“ Volle Fahrt voraus auf die WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko, für die sich die DFB-Auswahl im März 2025 erst noch qualifizieren muss. Dann mit einem anderen Anker als Toni Kroos, auf dessen Position der Bundestrainer die Namen Pascal Groß, Angelo Stiller und Aleksandar Pavlovic nannte. Bewähren müssen sie sich bald in der Nations League, wenn es mit einem Heimspiel gegen Ungarn in Düsseldorf (7. September) losgeht. Das Aushängeschild des deutschen Fußballs hat sportlich ohne Frage überzeugt – und doch bei diesem Heimturnier so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor, denn nach dem WM-Sieg 1974 reichte es bei der EM 1988 und WM 2006 ja jeweils fürs Halbfinale. Aber irgendwie fiel diese Tatsache fast unter den Tisch. Überzeugend den Vertrauensverlust bekämpft zu haben, war vor allem dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) wichtiger.
„Wir werden den Rücken durchdrücken und wieder angreifen“, versprach DFB-Präsident Bernd Neuendorf, der sich an seinem 63. Geburtstag „insgesamt durch dieses Turnier beschenkt“ fühlte, denn: „Ich habe das Gefühl, dass die Leute richtig in einem Rausch waren.“ Wann gebe es das, dass wie in Stuttgart in der zweiten Halbzeit die Nationalhymne gesungen werden? Dennoch stand selbst der frühere Politiker im Schatten jener Botschaften, die Nagelsmann wie ein Staatsmann vortrug. Etwa das plakative Beispiel für Zusammenhalt: „Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig.“ Und er wollte auch mal loswerden, „in was für einem wunderbaren Land wir leben“. Nörgel-Deutschland war bitte gestern.
Noch nie hat wohl eine als Bilanz gedachte Pressekonferenz eines Bundestrainers den Bogen weiter gespannt als diese aufrüttelnde Rede zur Lage der Nation: „Wichtig ist, alle Menschen zu integrieren, zu eine, dass sich hier alle wohlfühlen.“ Ohne ein bestimmtes politisches Spektrum anzusprechen, wusste jeder, was gemeint war. Nagelsmann findet es nicht gut, dass Politiker für Versäumnisse im Großen verantwortlich gemacht werden, die von den Leuten im Kleinen bekämpft werden könnten. Der Mountainbike-Liebhaber bemühte das Bild vom Wanderer oder Radler, der oben am Bergsee ein Selfie knipst, um dann drauf zuschauen, wie vielen das gefällt. Dass derlei in allen Generationen inzwischen verankerten Gepflogenheiten dem Gemeinsinn im „Land der Vereine“ (O-Ton Nagelsmann) eher schaden, ist hinlänglich bekannt.
Dass der Bundestrainer mit keiner Silbe mehr über taktische Fehler gegen ein Weltklasseteam wie Spanien reden musste, war keine 24 Stunden nach dem epischen Drama im Neckarpark gleichwohl erstaunlich. Niemand wird ihm unterstellen, dass seine Tränenrede ein Ablenkungsmanöver waren, aber sie haben den Nackenschlag gegen die Iberer– vom „Scheitern“ wollte Neuendorf extra nicht sprechen – in den Hintergrund gerückt. Nur einmal kam Nagelsmann eher in Nebensätzen darauf, warum es vielleicht auch schiefgegangen war. Als er darüber philosophierte, dass jeder im Leben nach Lösungen suchen sollte, auch wenn sie mal schiefgehen. So wie er mit seinen Assistenten Sandro Wagner und Benjamin Glück einen falschen Matchplan ausgeknobelt hatte. Nachrücker Emre Can und Dribbler Leroy Sané zu vertrauen, beide erkennbar außer Form, war ein fataler Fehler, den sich Nagelsmann mit der Hereinnahme von Robert Andrich und Florian Wirtz in der Pause eingestand. Eine Halbzeit lag das deutsche Spiel deswegen brach.
Entscheidender Nachteil dazu, dass ihm damit zwei Wechseloptionen flöten gingen – und er in der Verlängerung den von Krämpfen geplagten Toni Kroos nicht mehr ersetzten konnte. Vielleicht ist es aber müßig, ob es dann die Lücke nicht gegeben hätte, in der Dani Olmo die Flanke in der vorletzten Minute der Verlängerung auf Mikel Merino schlug, der erst die schwarz-rot-goldene Schockstarre auslöste. Aber hätte die DFB-Auswahl ein Elfmeterschießen zwangsläufig gewonnen? Genauso wenig bringt wohl die kaum aufzulösende Streitfrage, ob Deutschland bei dem Schuss von Jamal Musiala an den Arm des Spaniers Marc Cucurella einen Handelfmeter hätte bekommen müssen. Nagelsmann hatte dazu bereits am Freitag alles gesagt – Samstag waren andere Statements wichtiger.