Hätte es Elfmeter geben müssen? Für die Fans und viele Experten ist die Sache klar. Doch die UEFA hat vor dem Turnier die Richtung vorgegeben.
„Handregel ist ein verzwicktes Luder“Was tatsächlich gegen einen Elfmeter spricht – Erklärung in Uefa-Vorgaben
Und schon ist von „Handgate“ die Rede. Der erbittert geführte Kampf um die Deutungshoheit tobt am Tag nach dem deutschen EM-Aus - und wird auch nicht so schnell abebben. Der verweigerte Strafstoß für die deutschen Fußballer im EM-Viertelfinale gegen Spanien (1:2 n.V.) rief nahezu alle auf den Plan, die schon einmal einen Schiedsrichter-Pfiff aus der Ferne gehört hatten.
Der Zank der Experten hat Züge eines Glaubenskrieges - dabei lief die treffende Zusammenfassung zu dem Dilemma bereits am späten Freitagabend bei „Radio Müller“.
Elfmeter: Thomas Müller: Handregel „ist ein verzwicktes Luder“
„Die Handregel“, sagte Nationalspieler Thomas Müller nach dem enttäuschenden Aus, „ist ein verzwicktes Luder.“ Und genau das hatte jene Regel zum Unmut der Deutschen wieder einmal unter Beweis gestellt. Dass die Pfeife des englischen Schiedsrichters Anthony Taylor in der 106. Minute stumm blieb, obwohl Jamal Musiala den Ball unzweifelhaft an die Hand des im eigenen Strafraum stehenden Spaniers Marc Cucurella geschossen hatte, erzürnt die Fußballnation.
Der Boulevard sprach schnell von „Beschiss“, berichtete vom Zorn eines Beteiligten in der Referee-Kabine und präsentiert ein Foto des "Skandal-Schiedsrichters“, als dieser kommentarlos davonfuhr. Den Kampf der Ex-Profis führten die früheren Nationalspieler Michael Ballack („Ein klareres Handspiel gibt es nicht“) und Stefan Effenberg („Die Aktion war für mich kein Handspiel“) exemplarisch.
Effenberg sprach in seinem Gastkommentar auf t-online.de sogar von der „vielleicht besten Schiedsrichterleistung im ganzen Turnier“. Mit dieser Meinung dürfte er so ziemlich alleine sein. Oder doch nicht?
Hier lesen: Stefan Effenberg spricht von „vielleicht bester Schiedsrichterleistung im ganzen Turnier“
Doch was stimmt den nun? War das Handspiel eindeutig und der Strafstoß damit auch? Oder ist die straffreie Regelauslegung die bessere?
Fest steht: Der englische Schiedsrichter Anthony Taylor hat sich bei der großen Aufregerszene an die Handspiel-Vorgaben der Europäischen Fußball-Union UEFA gehalten. Diese Richtung hatte UEFA-Schiedsrichterchef Roberto Rosetti vor dem Turnier vorgegeben.
Das vergleichbare Beispiel
Rosetti hatte während einer Pressekonferenz kurz vor der EM eine vergleichbare Szene gezeigt. RB Leipzigs Castello Lukeba hatte im Champions-League-Spiel im Oktober 2023 gegen Manchester City den Ball auf ähnliche Art abbekommen: aus kurzer Distanz, an den nach unten hängen Arm, der zudem bei der Ballberührung nachgab. „Das ist niemals ein Elfmeter“, sagte Rosetti zu der Szene. Der Spieler versuche, den Kontakt zu vermeiden. Der Arm sei nah am Körper in einer natürlichen Position.
Die Unklarheiten
Taylor äußerte sich am Freitagabend nicht, die UEFA war zu dem Fall angefragt. Offen blieb auch am Samstag, ob Niclas Füllkrug bei der vorausgegangenen Vorlage für Musiala nicht ohnehin im Abseits gewesen wäre. In dem Fall wäre es egal gewesen, ob Cucurellas Handspiel strafbar war, oder eben nicht.
Das sagt der Bundestrainer
Julian Nagelsmann wollte die umstrittene Entscheidung nicht als Grund für das EM-Aus anführen. Die Szene ließ den Bundestrainer aber nicht los. „Wenn der Schuss von Jamal aufs Tor geht, gibt es Elfmeter, wenn er auf die Tribüne geht und das sieht man, dann gibt es keinen Elfmeter, das ist relativ simpel. Er geht aufs Tor, wahrscheinlich sogar ins Tor, und es gibt keinen Elfmeter, das kann ich nicht nachvollziehen“, sagte Nagelsmann, der sich auch für den Einsatz neuer Technik aussprach: „Es gibt 50 Roboter, die uns Kaffee bringen, dann gibt es auch KI, die berechnet, wo die Flanke runterkommt.“
Nagelsmann steht mit seiner Argumentation nicht alleine da. Schließlich hatte sich der „Football Board“ der Europäischen Fußball-Union (UEFA), in dem zahlreiche Ex-Profis wie Rudi Völler, Oliver Bierhoff und Jürgen Klinsmann ihre Expertise abgeben, in der Vergangenheit ähnlich positioniert. Das Gremium wollte bei der Handregel berücksichtigt wissen, ob der Ball Richtung Tor fliegt.
Das sagen die Experten
Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich versuchte, die Debatte beim Streamingdienst MagentaTV zu beruhigen. „Man muss es regeltechnisch analysieren: Was macht der Spieler aus der Sicht des Schiedsrichters? Der Spieler zieht während des Schusses die Hand aus der Schussbahn zurück.“ Der Experte sprach von einem „Handspiel-Dilemma“. Ex-Nationalspieler Michael Ballack konnte das nicht nachvollziehen: „Das ist eine klare Fehlentscheidung.“ Er wisse nicht, ob Taylor und sein Team sich „aus Angst oder Respekt“ gegen einen Elfmeter entschieden hätten.
Abseitsszene vor dem Handspiel?
Offen blieb damit auch, ob Niclas Füllkrug oder Florian Wirtz in der Szene womöglich im Abseits standen. Von der UEFA gab es auf Anfrage dazu vorerst keine Stellungnahme. Die österreichische Kronen-Zeitung fragte dennoch, ob Deutschland „ein Elfmeter gestohlen“ worden sei. Die italienische Tuttosport schrieb von einem „sensationellen Fehler“ des Schiedsrichters.
Patrick Ittrich bemühte sich um eine objektive Sicht. „Die Entscheidung wird so oder so nicht zurückgenommen, egal, ob er ihn gibt oder nicht. Ich bin aber eher bei Handspiel“, sagte der Bundesliga-Schiedsrichter. Ex-Referee Manuel Gräfe hatte ein „strafbares“ Handspiel gesehen. Der frühere deutsche Top-Referee Markus Merk urteilte ebenso, Bibiana Steinhaus-Webb konnte die Entscheidung Taylors dagegen nachvollziehen. (mit dpa und sid)