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Dark TourismAlles für ein Selfie aus der Todeszone

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Selfie aus der Todeszone: Ein Mann fotografiert sich vor dem Atommülllager in Tschernobyl.

Ein Selfie aus der Todeszone, ein YouTube-Video aus dem verstrahlten Tschernobyl: Eine ukrainische Agentur bietet inzwischen Reisen in die verbotene Sperrzone an. Für rund 200 Euro kann man einen geführten Kurztrip in das rund 30 Kilometer um den havarierten Reaktor abgesperrte Areal der Atomkatastrophe von 1986 machen. Feste Bestandteile der Sightseeing-Tour: ein Ausflug zum Unglücksreaktor und ein Spaziergang durch die Geisterstadt Prypjat.

Doch: Warum reisen Menschen an Orte unergründlichen Schreckens? Warum opfern sie ihren Jahresurlaub, um sich das Leid anderer anzusehen? Und: Warum bringen sie sich in diesem Fall zudem auch noch selbst in Gefahr?

Tschernobyl-Besuch als Mutprobe

„Oft sind es junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren, die in ihrem Urlaub einen Nervenkitzel suchen, die sich mit dem Geigerzähler in der Hand filmen und darauf warten, dass er ausschlägt“, wie Professor Heinz-Dieter Quack erklärt. „Für manche ist das wie eine Art Mutprobe“, so der Wissenschaftler von der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften Braunschweig/Wolfenbüttel. „Da wir heute kaum noch existenzielle Ängste um unser Auskommen haben, suchen einige Touristen anscheinend auf diese Weise einen Kick oder Thrill.“ Die Fahrten in die Sperrzone boomen jedenfalls, weiß Quack, der sich schon lange mit dem Phänomen „Dark Tourism“ beschäftigt.

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Makabres Ausflugsziel: ein verlassener Vernügungspark in der verstrahlten Geisterstadt Prypjat nahe Tschernobyl.

Wobei der Begriff mehr umfasst als man zunächst vermutet: „Unter Dark Tourism versteht man alles, was nicht unserer positiv-naiven Vorstellung von Urlaub entspricht“, so der Wissenschaftler vom Institut für Tourismus- und Regionalforschung. Dazu zähle etwa auch, wenn man sich auf eine Reise begebe, bei der man nicht nur angenehme Dinge plane und im Urlaub etwa ehemalige Kriegsstätten oder Gefängnisse besuche. Dabei könne diese Form von schwarzem Tourismus durchaus ehrenwerte Beweggründe haben, so der Wissenschaftler.

Häufig ist Bildung ein Motiv

Viele Reisende hätten schließlich ein Bildungsmotiv, „sie wollen sich selbst ein Bild machen und nicht auf das von den Medien kolportierte vertrauen“, so Quack.

Auch Martin Lohmann, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa weist auf die mahnende Wirkung von Fahrten zu Konzentrationslagern oder Gedenkstätten des Zweiten Weltkriegs hin. So werde dem Besucher das Ausmaß des Schreckens der Nazi-Herrschaft wieder eindringlich bewusst gemacht. Eine derartige Form von schwarzem Tourismus müsse es geben, so Lohmann.

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Ein Berg von Schuhen ermordeter Häftlinge macht deutlich, wie groß das Ausmaß der Katastrophe von Auschwitz war.

Reise in Krisengebiete, um sich selbst zu erheben

Aber es gibt eben auch Anhänger des schwarzen Tourismus, die sich am Leid der Anderen laben. „Manche Menschen reisen in Katastrophengebiete, etwa in die Erdbebenregionen von Haiti, um sich selbst zu erheben“, sagt Quack. „Das ist zu vergleichen mit Gaffern an einer Unglücksstelle an der Autobahn“ , so der Tourismus-Forscher. „Sie geben vor, Anteil zu nehmen, sind aber im Grunde nur vor Ort, um sich selbst sagen zu können: ‚Ein Glück, dass mir das nicht passiert ist‘.“

Diesem voyeuristischen Impuls habe die Insel Giglio seit der Havarie der Costa Concordia einen großen Besucherandrang zu verdanken, erklärt Quack. „Ich glaube nicht, dass die alle dort hinreisen, um ihre Verwandten zu betrauern.“

Auch den Slum-Tourismus zählen einige Wissenschaftler zum Dark Tourism. Aber auch in diesem Fall könne man nicht pauschal urteilen, sagt Quack, es komme auf das Motiv für die Fahrt in die Elendsviertel an. Reisende sollten sich demnach fragen: „Habe ich ein ehrliches Interesse daran, wie die Menschen vor Ort leben?“ Das könne unter Umständen ja besser sein als sich in einer All-Inclusive-Anlage an den Pool zu legen und jegliche Lebensumstände der Einheimischen auszublenden, so der Tourismusforscher. „Oder will ich mich selbst nur besser fühlen, indem ich mir das Leid der Anderen anschaue?“

Schlachtfeldtouren gab es schon nach dem Ersten Weltkrieg

Doch wer ein Selfie macht, stellt sich in der Regel selbst in den Vordergrund. „Seht her, ich vor dem Eiffelturm.“ Aber: „Seht her, ich vor der Favela“. Ist das richtig? Das Elendsviertel oder die Folgen der Atomkatastrophe als Hintergrund zu nutzen für das eigene Ego? So wie eine Sonnenuntergangs-Fototapete?

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Ehrliches Interesse oder Voyeurismus? Der Slumtourismus ist umstritten.

Sicher ist, dass es den schwarzen Tourismus viel länger gibt, als wir glauben. Er ist keine neue Bewegung, die als Begleiterscheinung der Generation Selfie entstanden ist: „Im ägyptischen Tal der Könige haben schon viele griechische und römische Besucher in der Antike ihren Namen, Herkunftsort und gelegentlich ein Datum hinterlassen – eingeritzt in die Steine oder aufgebracht mit Pinsel und Feder“, schreibt Quack zusammen mit seinem Co-Autoren Albrecht Steinecke, mit dem er den Sammelband „Dark Tourism. Faszination des Schreckens“ herausgegeben hat.

Schlachtfeldtouren nach dem Ersten Weltkrieg

Und: Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs habe es „organisierte Schlachtfeldtouren“ gegeben, „,die sowohl von gemeinnützigen Organisationen als auch von Reiseveranstaltern angeboten wurden“, unter anderem von dem britischen Unternehmen „Thomas Cook“. „Die Beweggründe der Menschen waren damals wohl dieselben wie heute“, vermutet Quack. Manche wollten den angenehmen Schauder spüren, dem Unglück entkommen zu sein. Andere wollten sich bilden und mehr erfahren, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.

Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto weniger ergriffen sind wir

„Je länger die Ereignisse in der Geschichte zurückliegen, desto weniger sind wir von ihren Orten ergriffen“, sagt Quack. „Junge Menschen werden beim Anblick von Gräbern aus dem Ersten Weltkrieg weniger fühlen als noch ihre Großeltern.“ Früher oder später werde das auch mit den Mahnmalen aus dem Zweiten Weltkrieg geschehen, spätestens dann, wenn sämtliche persönliche Anker fehlten. „Ein plakatives Beispiel sind Burgen, die wir ja heute romantisieren“, so der Wissenschaftler. „Wir assoziieren sie mit Rittern und Burgfräulein und sehen sie nicht mehr als das, was sie einmal waren: Kriegsfestungen, in deren Kerkern gefoltert wurde.“

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