Zeugnisse aus dem Nachkriegs-KölnAus Akten über Wohnungsnot wird Kunstprojekt
Köln-Südstadt/Mülheim – Die Welt der kleinen Dinge ist Wolfgang Stöckers Metier. Ob als Staub, den es zu entfernen und sammeln gilt oder als Mikrokosmos jedweder Art – in seinem 2004 gegründeten Internationalen Staubarchiv finden sie einen adäquaten Platz. Auch auf seinen Staubexpeditionen fällt sein Blick eher auf das Unscheinbare als auf das Große, Offensichtliche. „Wenn ich mit einer Gruppe zum Kölner Dom gehe, weise ich die Teilnehmer auf die Ritzen und Furchen im Umfeld des Doms hin, nicht auf den Dom als Metaform“, sagt er. Für die aktuelle Ausstellung „Besondere Begründung der Notlage“ erforschte er einen weiteren „Mikrokosmos der Geschichte“.
Gemeinsam mit Filmemacher und Fotograf Marek Ratajczak konzipierte er die Ausstellung, die momentan in den Kunsträumen der Michael Horbach Stiftung auf der Wormser Straße 23 zu sehen ist. 400 zwischen 1950 und 1970 erstellte Fragebögen der Kölner Traditionsfirma KHD zur Wohnsituation ihrer Arbeiter dienten dabei als Quelle.
Zeugnisse wären im Müll gelandet
Gefunden hatten die alten und vergessenen Akten die beiden Künstler Anja Kolacek und Marc Leßle, als sie aus der ehemaligen KHD-Hauptverwaltung an der Deutz-Mülheimer Straße das „Zentralwerk der schönen Künste“ machten. Sie stellten die Unterlagen Stöcker und Ratajczak zur Verfügung. „Ohne das Deutzer Zentralwerk der schönen Künste hätte es diese Ausstellung nie gegeben“, so Stöcker. Und tatsächlich wäre der Ordner mit den 400 Fragebögen wahrscheinlich im Müll gelandet, wenn das Künstlerpaar seinen Wert nicht erkannt hätte.
Dabei fiel das „anonyme Geschenk“ 2012 schon fast sprichwörtlich vom Himmel. In einer Ikea-Tasche, zusammen mit Anziehsachen, einem Werksausweis und anderen Utensilien, habe der Ordner eines Morgens bei ihnen vor der Eingangstür gelegen, so Anja Kolacek. Der Ordner wurde zunächst Teil einer Rauminstallation im alten Verwaltungstrakt der Motorenbauer. Mit den Texten hätten sie „performativ“ gearbeitet und Szenen entwickelt, „um Geschichte lebendig zu machen.“
Tapeten halten bröckelnden Putz zusammen
Neben den tabellarisch abzuarbeitenden Fragen gab vor allem die Rubrik „Besondere Begründung der Notlage“ Aufschluss über die unhaltbare Wohnsituation in der Nachkriegszeit. Frei formuliert beschreiben die Antragsteller Notstände wie Feuchtigkeit, Schimmel und Überbelegung. Marodes Mauerwerk, undichte Dächer und Toiletten, die nur über einen Hof erreichbar waren, sind häufig genannte Mängel – und chronische Krankheiten ihre Folge.
„Unsere jetzige Wohnung, Laufenbergstraße Nr. 5, ist einsturzgefährdet und der Regen dringt in Strömen ein. Es ist nur ein Raum, den wir mit 6 Personen bewohnen müssen“, schreibt ein Werksarbeiter. „Die Wände zum Dach hin sind mit bröckelndem Lehmputz isoliert, der nur noch von den Tapeten gehalten wird“, berichtet ein anderer. Schicksale wie das eines hirnverletzten Kriegsheimkehrers lassen indes keinen Leser kalt. Er litt unter dem 24-stündigen Lärm aus der Versuchshalle der Motoren AG. Ein anderer sieht sich außerstande, in einer 18-Quadratmeterwohnung ohne Bad und Toilette auf dem Hof eine Familie zu gründen. Wer mit seinem Gesuch durch den Antrag bei der Werkssozialfürsorge Erfolg hatte, bekam vom Wohnungsamt eine neue Werkswohnung zugewiesen.
2019 übergaben Anja Kolacek und Marc Leßle die geschichtsträchtigen Formulare zur Auswertung an Wolfgang Stöcker. Er verarbeitete sie und machte daraus Kollagen im Stil von Wandzeitungen. Zwischen die anonymisierten Blätter der Fragebögen setzte er Transkriptionen der teils unleserlichen oder in Sütterlin geschriebenen Dokumente. Mit Kleister oder Knochenleim auf Spanplatten geklebt vermitteln sie nach mehrfacher Behandlung mit Leimwasser und Klarlack eine Authentizität, die auch der Verwendung alter Papiere zu verdanken ist. „Sie stammen noch von meinem Schwiegervater, der zu Lebzeiten Drucker in Westfalen war“, sagt Stöcker.
Marek Ratajczak hielt die Entstehungsgeschichte der Ausstellung filmisch fest und kombinierte sie mit Fotografien seiner West-Afrikareisen. Auch sie zeigen leidgeprüfte Menschen in einem vom Überlebenswillen geprägten Alltag. Zwar seien die Ursachen andere als bei der Wohnungsnot im Köln der Nachkriegszeit, kommentiert Stöcker. Die „Besondere Begründung der Notlage“ treffe auf ihr Schicksal „als universell erfahrbare menschliche Tragödie“ aber ebenso zu, meinen Stöcker und Ratajczak einhellig.
Künstler hoffen auf Rückkehr nach Mülheim
„Eigentlich müssten die Arbeiten am Originalort ausgestellt werden“, meinen Kolacek und Leßle beim Ortstermin. Doch das ist zur Zeit nicht möglich. Die Künstler mussten ihr Domizil verlassen, nachdem ihnen der Eigentümer des Gebäudes gekündigt hatte. Nun warten Sie auf die mögliche Rückkehr (siehe Infokasten zur „Zukunft des Otto und Langen Quartiers“). Elf Jahre lang hatte das „Deutzer Zentralwerk der schönen Künste“ die 10.000 Quadratmeter große Fläche mit Theater, Performance und Ausstellungen bespielt, für den Erhalt des historischen Interieurs gesorgt und für neue Formen der Stadtentwicklungspolitik geworben. Die Kündigung unterbrach die Entwicklung des innovativen Stadtkunstprojekts jäh. In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob und wie sie zurückkehren.
In den Kunsträumen der Michael Horbach Stiftung, Wormser Straße 23, ist die „Besondere Begründung der Notlage“ noch bis zum 20. Februar ausgestellt. Öffnungszeiten sind mittwochs bis freitags von 15.30 bis 18.30 Uhr und sonntags von 11 bis 14 Uhr. Weitere Informationen sind im Internet zu finden.