Zehntausende haben in der Region gegen Rechtsaußen protestiert, einige demonstrierten zum ersten mal in ihrem Leben. Für viele ist eine Schmerzgrenze überschnitten.
„Man ist nicht handlungsunfähig“Was derzeit so viele Normalbürger zum Demonstrieren bewegt
Eigentlich ist sie lieber nicht dort, wo große Gruppen zusammenkommen, sagt Heike Jörissen: „Ich bin nicht so eine Demo-Gängerin.“ Selbst im Privaten meidet sie Menschaufläufe: „Ich gehe auch nicht gerne auf den Weihnachtsmarkt.“ Trotzdem hat sich die 47-Jährige Anfang Februar auf den Weg gemacht und vor dem Rathaus in Hürth eine Veranstaltung des Bündnisses „Wir sind Hürther“ besucht: „Dieses Thema finde ich jetzt so wichtig, dass ich zur Kundgebung ,Hürth ist bunt’ gegangen bin.“
„Dieses Thema“, das ist der erstarkende Rechtsradikalismus, vor dem viele nicht mehr die Augen verschließen möchten, seitdem nicht nur Umfragewerte der AfD wachsenden Rückhalt in Teilen der Bevölkerung attestieren, sondern das Netzwerkes Correctiv über ein Treffen rechtsgerichteter Politiker unter anderem von AfD und Werteunion berichtete, auf dem Rechtsextremist Martin Sellner Ideen zur Umsiedlung von Menschen vorstellte, die ihm zufolge durch Abstammung oder Kultur nicht nach Deutschland passen.
„Hass geht gar nicht“
Für Heike Jörissen war mit dieser Nachricht ein Punkt erreicht, an dem sie ihre Abneigung gegen die Teilnahme an Großveranstaltungen überwand: „Hass auf andere und die Forderung, dass Ausländer raus sollen, gehen einfach gar nicht.“
Ihren Sohn nahm sie zur Kundgebung direkt mit: „Ich wollte ihm zeigen, wie so etwas läuft.“ Der Zwölfjährige sei voll dabei gewesen, schildert sie: „Er fand es sehr spannend, hat viel hinterfragt und den Rednern wirklich zugehört.“ Neben den Reden des amtierenden Bürgermeisters Dirk Breuer und des früheren Bürgermeisters Walther Boecker habe Stefan Brings gesprochen, außerdem Mitglieder des Runden Tisches. Jugendliche brachten sich ebenfalls ein: „Es sind Schülerinnen aufgetreten, die Friedenslieder gesungen haben.“
Mit ihren Beobachtungen sieht die medizinische Technologin eine These deutlich widerlegt: „Die AfD sagt ja gerne, die breite Mitte würde bei diesen Veranstaltungen fehlen, das wären alles nur Schüler, die geschickt werden. Nein, das stimmt nicht. Es waren viele Altersgruppen da, von Eltern mit ihren Kindern bis zu Rentnern.“ Auch politisch sei es darum gegangen, über unterschiedliche Standpunkte hinweg eine verbindende Haltung zu zeigen: „Niemand hat es parteipolitisch genutzt, alle haben die gemeinsame Mitte betont.“ Aus dem Herzen gesprochen hätten ihr Schilder, auf denen einige dazu aufforderten, unbedingt wählen zu gehen: „Das ist tatsächlich etwas, was jetzt wichtig ist.“
Rechtsaußen soll die Fahne nicht missbrauchen
„Wir sind viele, die eine ganz andere Meinung vertreten als die wenigen, die in den Sozialen Medien rechtsextreme Ansichten verbreiten. Auch wir laufen politisch nicht alle in die gleiche Richtung, aber uns eint: Wir stehen alle diesseits dieser schrecklichen Ideologie, die fatal in eine Richtung läuft, die es schon einmal gegeben hat. Jetzt muss man Flagge zeigen – und auch Gesicht“, findet auch Dr. Hedi Roos-Schumacher. Die 67-jährige promovierte Historikerin und VHS-Leiterin im Ruhestand beteiligte sich an der Mahnwache „Hennef bleibt bunt“, die die Stadt Hennef mit Parteien, Vereinen und Kirchen organisiert hat. „Für mich ist ein Punkt erreicht, an dem man das muss“, sagt sie: „Das muss für alle sichtbar sein, die jetzt noch zögerlich in ihrer Meinung sind.“
Trotz langjähriger politischer Karriere war es für die CDU-Frau ihre erste Teilnahme an einer Demonstration: „Ich verfolge den Diskurs darüber, dass gefordert wird: Die Leute, die jetzt auf die Straße gehen, sollen sich auch in der praktischen Politik engagieren. Bei mir war es umgekehrt, ich habe mich 21 Jahre lang im Stadtrat engagiert. Auf die Straße gehe ich erst jetzt.“ Die Erfahrungen, die sie machte, schildert sie fast durchweg positiv: „Die Stimmung habe ich als sehr solidarisch und einvernehmlich wahrgenommen. Die Ansprachen hatten viel Einigendes, Ärger gab es nicht – nur einen einzelnen Mann, der wohl für die Gegenseite stand und eine schwarz-rot-goldene Deutschlandfahne schwenkte.“ Darüber habe sie sich geärgert, da sie fand, dass die Fahne durch die Tatsache, dass er sie für sein Anliegen nutzte, in Misskredit gebracht würde: „Deswegen war ich froh, als ihm der Bürgermeister sagte, dass sei unsere Fahne und die würden wir uns nicht nehmen lassen.“
Auch Überlegungen zur Sicherheitslage, die sie vorab anstellte, hielten sich nicht vom Demonstrieren ab: „Hier in Hennef hat die AfD bislang wenig Rückhalt, deswegen war nicht zu erwarten, dass es während der Mahnwache zu massiven Störungen oder gar Angriffen kommen könnte. Trotzdem habe ich darüber nachgedacht, dass etwas passieren könnte. Ich wäre aber in jedem Fall hingegangen, denn wir müssen die Stimmung abfangen, bevor die Rechtsextremen die Übermacht auf der Straße bekommen.“
„Im Grunde ist von Deportation die Rede“
Er sehe sich nicht als politisch engagierten Menschen, sagt Dieter Frey, auch wenn er Mitglied im Jugendhilfeausschuss der Stadt Gummersbach sei: „Mein Engagement ist im Bereich der Kirche und beim CVJM.“ Mit 70 Jahren sei er nun zum ersten Mal in seinem Leben zu einer Demo gegangen, zusammen mit seiner Frau: „Weil uns wirklich besorgt, was da los ist und wie viel Zuspruch die AfD in Umfrageergebnissen bekommt, wie diese Herrschaften sich zum Teil benehmen und was sie machen wollen würden, wenn sie an der Macht wären.“ Besonders die Pläne zur sogenannten Remigration bereiten dem Steuerberater im Ruhestand Sorgen: „Das ist ja im Grunde eine Deportation, von der da die Rede ist. Das war ein Auslöser, für uns und für viele andere, um auf die Straße zu gehen.“
Bei der Veranstaltung in Gummersbach-Vollmerhausen seien zunächst 50 Leute erwartet worden – gekommen seien fast 500. Wie Henrike Jörissen und Hedi Roos-Schumacher erlebte auch er die Zusammenkunft als einen Querschnitt durch die ganze Gesellschaft: „Es war ein sehr, sehr gemischtes Publikum. Die Stimmung war locker, fröhlich, und es hat mir ein gutes Gefühl gegeben, dass wir dabei waren.“
Ein Zeichen gegen den Rechtsruck
Mit der Demonstration allein war es für ihn jedoch nicht getan: „Zusätzlich habe ich alle demokratischen Parteien angeschrieben und auch verschiedene Medien mit der Bitte, dass sie auf eines aufmerksam machen: Die Demos allein haben gar keinen Effekt, sondern es geht jetzt darum, dass die Menschen, die gegen rechts demonstrieren, auch alle wählen gehen. Denn die, die der AfD nahestehen, wählen auch. Deswegen ist es jetzt so wichtig, dass alle, die gegen die AfD und andere rechte Parteien sind, eine demokratische Partei wählen – egal, welche Farbe.“ Durch den CVJM habe er Kontakt zu jungen Geflüchteten und zu einer Klinikärztin, die aus Syrien stamme. „Aus Gesprächen mit Betroffenen, die einen Migrationshintergrund haben, weiß ich: Die Situation verunsichert sie sehr.“
Für Petra Walther war ihre Teilnahme an einer Demonstration in Bonn die Möglichkeit, zum Ausdruck zu bringen, dass sie nicht einverstanden ist mit dem Rechtsruck in der Gesellschaft. „Man sollte jetzt nicht einfach nur zuschauen, man kann zumindest zeigen, dass es viele sind, die anders denken. Man ist nicht handlungsunfähig. Aber wenn jeder denkt, dass man nichts machen kann, passiert auch nichts“, meint die 55-jährige Fachjournalistin.
Abstimmung mit den Füßen
Für Thorsten, einen Politologen aus Köln, der seinen Nachnamen aus beruflichen Gründen nicht nennt, war die Teilnahme an der großen Demonstration am Rheinufer nicht der erste Besuch einer Veranstaltung dieser Art, doch seine Protestvergangenheit liegt überwiegend lange zurück: „Als Student war ich auf Demonstrationen gegen Studiengebühren“, erinnert sich der 55-Jährige. Einmal sei er nach den Anschlägen in Hanau auf die Straße gegangen, um Farbe zu zeigen, sonst nicht. „Aber ich finde, jetzt ist ein Moment erreicht, an dem man ein Zeichen setzen und die wehrhafte Demokratie mit Leben füllen muss.“ Gerade das sei der beste Weg: „Ich bin nicht der Meinung, dass man die AfD verbieten sollte. Eine Demokratie muss das anders lösen, und in der Demokratie sehe ich die Möglichkeit einer Abstimmung mit den Füßen, bei der man Flagge zeigen kann.“
Fast wie bei einem Familienfest erlebte er die Stimmung auf den Rheinwiesen, wo mehrere Zehntausend Menschen zusammenkamen: „Viele trafen sich dort, die sich kannten. Wenn dann ein Lied wie der ‚Kölsche Stammbaum‘ gespielt wird, kann es eine echte Hymne für diese gemeinsame Haltung werden.“ Eines habe ihn im Nachhinein aber beschäftigt: „Meiner Frau fiel auf, dass von denen, um die es ging, kaum jemand dort war. Ich wundere mich, woran das liegt. Es wäre fatal, wenn die Demo-Teilnehmer nur eine neue Variante der ‚alten weißen Männer‘ wären, die das Richtige tun wollen.“
Wichtig findet er, zu betonen: „Das sind keine Demos gegen Rechts, sondern Demos gegen Rechtsextremismus. Wenn die SPD links steht, dann steht die CDU rechts – und dagegen möchte ich nicht demonstrieren. Genauso hätte ich mich davon abgegrenzt, wenn radikale Thesen vertreten worden wären. Ich hätte dann vielleicht nicht das Wort erhoben, aber ich wäre gegangen.“ So, wie er es erlebt habe, sehe er es aber als Volksbewegung im besten Sinne: „Ich denke, die Mehrzahl der Menschen hat verstanden: Das geht gegen Rechtsaußen.“
Die 84-jährige Gisela Pastoors aus Ettelscheid erinnert sich aus ihrer Kindheit noch daran, dass in der Eifel Flüchtlinge aus den Ostgebieten einquartiert wurden, auch in ihrem Elternhaus: „Zum Teil waren es Einzelpersonen, teilweise waren auch Familien zu Gast. Das war nie ein Problem.“ Das nun Menschen fremder Herkunft angefeindet werden, versetzt die frühere Sozialarbeiterin in große Unruhe. Sie berichtet sogar von gesundheitlichen Reaktionen: „Die politische Situation im Moment geht mir sehr unter die Haut. Jeden Tag lese ich die Zeitung, sehr interessiert aber manches erregt mich so sehr, dass ich Bluthochdruck bekomme. Immer wieder etwas neues Schreckliches, ich konnte es nicht mehr ertragen.“
Nicht nur Fernsehen gucken
Glücklich, richtig erlöst habe sie sich gefühlt, als von den ersten Demos in Großstädten berichtet worden sei. „Ich dachte aber: Immer nach Köln oder Bonn fahren, das geht nicht. Eines Tages habe ich nach dem Lesen die Zeitung zugeklappt und spontan überall in der Nachbarschaft geschellt und gefragt: ,Können wir nicht auch etwas machen?‘ Es kam fast nur positive Resonanz.“
Unterstützt von ihrem Mann, der sich um „das Administrative“ gekümmert habe, trommelte sie Bekannte und Nachbarn zusammen, stellte eine Kundgebung in Schleiden auf die Beine. Auf 15 Teilnehmer habe sie gehofft, gekommen seien etwa 60 Personen: „Das war toll! Ich fand aber, mit einem Mal kann es nicht getan sein, es ist von großer Wichtigkeit, dass wir jetzt aktiv bleiben.“ Deswegen sei sie erneut rundgegangen, die Nachbarn hätten sich nun zu einer Initiative zusammengeschlossen und eine weitere Kundgebung organisiert.
In der Vergangenheit gehörten Demonstrationen nicht zu ihrem Alltag, doch nun will die betagte Dame dazu beitragen, die Gesellschaft auf Kurs zu halten. Ihr Alter werde sie davon nicht abbringen: „Man kann das nicht alles an sich vorbeigehen lassen und nur Fernsehen gucken. Manche sagen ja: ,Da muss die Politik etwas machen.‘ Wenn ich diesen furchtbar blöden Satz höre, könnte ich aus der Haut fahren! Die Politik, das sind wir. Jeder ist in der Verantwortung, sich gründlich und seriös zu informieren. Ich sage allen: Geht bitte wählen, wählt eine demokratische Partei.“