AboAbonnieren

Für ihre KinderTodkranke Mutter spricht Hörbuch ein – „Kann ihnen meine Stimme hinterlassen“

Lesezeit 4 Minuten
Die Schatten von zwei Erwachsenen und einem Kind fallen in den Morgenstunden auf den Asphalt.

Nach dem Tod bleibt die Erinnerung und die Stimme: Mit dem Familienhörbuch können Sterbende ihren Kindern ihre Stimme hinterlassen.

Ramona Leist aus Swisttal ist unheilbar an Krebs erkrankt. Sie nutzt das Angebot des Familienhörbuchs für ihre zehn und zwölf Jahre alten Kinder.

Im Sommer 2022 erkrankte Ramona Leist aus Swisttal an Brustkrebs. „Ausgerechnet zu meinem 40. Geburtstag kam die Diagnose“, erzählt die Mutter zweier Kinder, die heute zehn und zwölf Jahre alt sind. „Anfangs stand ich einige Wochen wie neben mir und verstand die Welt nicht mehr.“

Nach einigen Untersuchungen stand fest, dass Chemotherapie, Operation und Bestrahlung auf sie zukamen. Ende Dezember 2022 folgte die OP. Im Januar 2023 beim Kontrollgespräch wurde ihr eröffnet, dass Knochenmetastasen gefunden worden seien. Die Folge: elf weitere Chemotherapien und Bestrahlungen bis Oktober 23. Dann wurden im April 2024 weitere Metastasen auf der Lunge entdeckt. Leist: „Beim Gespräch mit meinem Onkologen fiel dann auch das Wort Palliativ-Patient.“

Audiobiografie lenkt den Blick der Betroffenen von Krankheit, Schmerz und Verlust auf die Fülle des Lebens

Eine Freundin erzählte ihr in dieser Situation von dem Familienhörbuch. Das Familienhörbuch ist ein Angebot für Mütter oder Väter, die unheilbar erkrankt sind und wissen, dass sie vermutlich nicht mehr lange zu leben haben. Mit der Aufnahme können sie ihren oft noch minderjährigen Kindern und anderen Angehörigen ihre Stimme und ihre Lebensgeschichte hinterlassen. Bei einer palliativen Diagnose können sie mithilfe von Profis ein Familienhörbuch kostenfrei herstellen und so auf ihrem schweren Weg des Abschiednehmens den Zurückbleibenden ein kostbares Vermächtnis hinterlassen.

Eine blonde Frau lächelt.

Ramona Leist aus Swisttal ist vor zwei Jahren unheilbar an Krebs erkrankt. Sie nimmt mit Familienhörbuch ein Audiobuch für ihre Kinder auf.

Im Mai schrieb Ramona Leist eine E-Mai an das gemeinnützige Kölner Projekt. Im August kam eine Audiobiografin zu ihr nach Hause, und beide nahmen an mehreren Tagen ein Hörbuch auf. Leist: „Dass ich meinen zwei Kindern meine Stimme und mein Lachen hinterlassen kann und sie immer wieder darauf zugreifen können, ist sehr wertvoll für mich.“

Die professionelle Arbeit an der Audiobiografie lenkt den Blick der Betroffenen von Krankheit, Schmerz und Verlust auf die Fülle des gelebten Lebens. Meist werden dabei die kleinen und großen Themen des Lebens angesprochen: Familienrezepte, gemeinsame Erinnerungen, Liebe und Lebenslust und auch der Umgang mit dem Abschied.

Für Kinder toll und bewegend, die Stimme des Verstorbenen hören zu können

Als Audiobiografin ist die Siegburgerin Julia Muth für das Familienhörbuch unterwegs. Die freie Journalistin und Mutter von drei Kindern berichtet, sie habe zunächst Angst gehabt, in das Projekt einzusteigen. Dagegen half die vorgeschaltete Ausbildung. Muth: „Diese Arbeit hat mir persönlich das Thema Tod sehr viel begreifbarer gemacht.“ Die Stimme sei bei den Erkrankten oft das Erste, was nicht mehr funktioniere, und wenn später die Trauerzeit in den Hintergrund rücke, sei es für die Kinder toll und bewegend, die Stimme des Verstorbenen hören zu können. Die Siegburgerin: „Das war für mich als Mutter der Hauptbeweggrund, bei diesem Projekt mitzumachen.“

Sascha John (50) aus Eitorf ist seit fünf Jahren als Sounddesigner und Tontechniker für die Hörbücher tätig. Er erhält die Autobiografien als Rohaufnahmen und prüft, ob sie die Menschen und deren Charakter auch widerspiegeln. Danach schneidet er sie, fügt Musik oder gestaltende Elemente hinzu, bleibt dabei aber in Kontakt mit den Audiobiografen. Außerdem versucht er, die jeweiligen Wünsche der Teilnehmer zu realisieren. John: „Wir versuchen natürlich, die Kosten im Rahmen zu halten, aber das Familienhörbuch ist mir eine Herzensangelegenheit.“

Seit zwei Jahren arbeitet seine Frau Nadine als Audiobiografin für das Familienhörbuch. Als Ergotherapeutin begleitet sie oft kranke Menschen über eine längere Zeit. Ein Teilnehmer starb nach den Vorgesprächen für die Aufnahmen zum geplanten Hörbuch, ein anderer in der Nacht zum Aufnahmetag. Die Arbeit mit Betroffenen falle nicht schwer, sagt sie, wenn es gelinge, sie zum Erzählen zu bringen über Themen, die ihnen viel bedeuteten. Oft sei ihnen auch gar nicht bewusst, was sie eigentlich für ein schönes Leben gehabt hätten. Oft seien auch die Hinterbliebenen überrascht und erstaunt, was ihre Eltern oder Partner in ihrer Kindheit erlebten hätten oder welche tollen Erlebnisse und Reisen sie machten.

Das Familienhörbuch ist als gemeinnützig anerkannt und finanziert sich über Spenden

Das unabhängige Familienhörbuch wurde 2017 von der Kölner Journalistin Judith Grümmer initiiert und 2019 als gemeinnützig anerkannte gGmbH mit Sitz in Köln gegründet. Diese finanziert sich ausschließlich über Spenden im Internet und Fördergeld und ist für die Teilnehmenden kostenfrei. Für jede Produktion werden rund 100 Arbeitsstunden benötigt. Seit 2021 wurden laut Pressesprecherin Carmen Dreyer 150 Hörbücher für mehr als 730.000 Euro produziert. Bis Juli 2024 wurden 539 Teilnehmer ins Projekt aufgenommen, 848 Kinder erhielten die Möglichkeit, mit einem Familienhörbuch aufzuwachsen. Das sei ein großartiger Erfolg, sagt Dreyer, der die Arbeit planbarer mache.

Die Kosten für die Realisierung eines Hörbuchs mit einer durchschnittlichen Länge von sechs Stunden betragen etwa 6000 Euro. Sie ergeben sich aus der rund 100-stündigen Produktion durch die professionell ausgebildeten Audiobiografen und Sounddesigner sowie aus Ausgaben für Verwaltung, Projektkoordination, Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising, erläutert Dreyer. Alle Neuigkeiten rund ums Familienhörbuch finden sich auf der Projektseite im Internet und auf den Social-Media-Kanälen.