Philosoph zu CoronaImpfung steigert pragmatisch betrachtet Überlebenschancen
Wie die Corona-Pandemie das Leben verändert und welche Denkstrategien in Krisenzeiten helfen, darüber sprach Annette Schroeder mit Rüdiger Kaun (Jahrgang 1943) aus Siegburg, der lange an einem Gymnasium Philosophie und Deutsch unterrichtete.
Herr Kaun, wie erleben Sie selbst die Pandemie? Was gibt Ihnen Halt oder Trost?
Rüdiger Kaun: Ich muss nicht getröstet werden, mir geht es gut. Die Beziehungen und Freundschaften sind stabil geblieben. Jede Woche nehme ich an einem philosophischen Meeting per Zoom teil. Und dann gibt es ja noch die Stadtbibliothek. Erleichternd ist sicher auch, dass ich nicht mehr berufstätig bin. Aber ich bekomme durch den Kontakt zu ehemaligen Kollegen mit, was die Pandemie ihnen abverlangt.
Was hat uns die Philosophie in der Pandemie zu bieten?
Die Richtung der Stoa erlebt gerade eine Renaissance, zum Beispiel mit ihrer Betonung der Gelassenheit und Gefühlskontrolle. Der Begriff „Gelassenheit“ hat vielleicht ein bisschen Patina angesetzt, ist aber sehr aktuell. Gelassenheit entwickelt sich, wenn man in der Lage ist, die Pandemie einzuordnen und zu relativieren. Dazu können auch Stoiker wie Marc Aurel ihren Beitrag leisten, wenn sie auf die Begrenztheit des Lebens hinweisen und ermahnen, das Vernünftige zu tun. Oder die pragmatische Herangehensweise, wie sie etwa Odo Marquard empfiehlt: Frei von Ideologien abzuwägen, was in der jeweiligen Situation nützlich und hilfreich ist – also etwa in der aktuellen Situation zu fragen: Was steigert meine Überlebenschancen? Ohne Zweifel ist das die Impfung.
Hilft Gelassenheit dabei, das Leben in einem größeren Zusammenhang zu betrachten?
Ja, indem man sich vor Augen hält, wie Pandemien in früheren Zeiten gewütet haben, nicht nur die Pest. Auch die Cholera hat ja in wiederkehrenden Wellen die Menschheit heimgesucht; Hegel zum Beispiel ist daran gestorben. Es ist historisch einmalig, welch enormer Aufwand heute für unser körperliches Wohl getrieben wird. Vor einigen Tagen habe ich erlebt, das jemand auf der Straße stolperte und sich verletzte. In Minutenschnelle war ein Krankenwagen da. Diese optimale Versorgung hat die Kehrseite, dass sich eine Einstellung breitgemacht hat, die Richard David Precht als „Kundenerwartung an den Staat“ bezeichnet – wie ich meine, zu Recht.
Zur Person
Rüdiger Kaun wurde 1943 in Stuttgart geboren. Nach seinem Studium in Heidelberg war er bis 2007 im Schuldienst; er unterrichtete die Fächer Deutsch und Philosophie. Kaun ist verheiratet und lebt seit 2007 in Siegburg.
Im Pumpwerk hat er eine philosophische Reihe moderiert. Als Schachspieler leitete er ehrenamtlich einen Kurs in der JVA Siegburg. Er ist Mitglied der Sankt Augustiner Autorengruppe Lit.Elf. 2019 erschein sein Erzählband „Rechtfertigung eines Heiratsschwindlers“.
2021 startete er mit Jürgen Röhrig, ehemals Redaktionsleiter des „Rhein-Sieg-Anzeiger“ und der Rhein-Sieg Rundschau, das Diskussionsformat „Brot und Kultur“. Nächster Termin der Reihe in der Stadtbibliothek ist Donnerstag, 7. April, 19 Uhr. (as)
Was sich auch in der neuen Redewendung spiegelt, die Politiker müssten jetzt „liefern“. Zeigt sich da ein Anspruchsdenken, dass immer alles verfügbar sein muss? Eine Illusion, die die Pandemie durchkreuzt.
Ja, es zeigt sich nun, dass nicht alles machbar ist, dass die Verfügbarkeit für unser Wohlergehen letztlich nicht gegeben ist und wir nicht die komplette Kontrolle über das Leben haben.
Kann eine Einübung in Tugenden wie Gelassenheit oder Verzicht in einer Gesellschaft gelingen, die sich über Leistung, Hyperkonsum und Statussymbole definiert?
Sicher kann man leichter gelassen sein und verzichten, wenn man ohnehin auf die Butterseite des Lebens gefallen ist. Einer alleinerziehenden Mutter im Homeoffice Gelassenheit zu empfehlen wäre zynisch. Andererseits muss Verzicht nicht immer mit Verlust verbunden sein. Jeder kann sich auch solche Fragen stellen: Wie wichtig ist diese oder jene Erfahrung? Etwa der Impuls: Ich muss jetzt unter allen Umständen in die Sonne fliegen. Das kann auch etwas Hysterisches haben.
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In der Pandemie wird es in der Tat als Einschränkung der Freiheit empfunden, nicht überall hinreisen zu können. Wie beurteilen Sie diese Verwendung des Begriffs Freiheit?
Darin zeigt sich eine verkürzte Wahrnehmung. Da wird mit einem ganz großen Begriff ein überschaubares Phänomen beschrieben. Das ist absurd, wenn man den Vergleich zieht mit totalitären Regimen wie China. Es wird dabei übersehen, wie viele andere Möglichkeiten der Entfaltung es hierzulande gibt. Übersehen wird auch, dass die Freiheit Grenzen dort hat, wo andere geschädigt werden. Wie großzügig der Freiheitsrahmen in unserem Land ist, ermisst man daran, dass jeder die Freiheit hat, sich zu Tode zu trinken oder zu rauchen, was ja auch das Gesundheitssystem strapaziert.
Mit Freiheitsparolen jonglieren auch Coronaleugner, Impfgegner und Verschwörungstheoretiker auf den Straßen. Der Protest nimmt zu. Droht der Gesellschaft die Spaltung?
Nein, dafür stimmen die Zahlenverhältnisse einfach nicht. Vielleicht steckt hinter diesem medial heraufbeschworenen Bild der Spaltung aber auch eine wachsende Sehnsucht nach Harmonie. Sie verheißt Stabilität; und das wünscht sich verständlicherweise eine Gesellschaft in Krisenzeiten. Wird dieser Wunsch nicht erfüllt, wie es etwa die Maskenaffäre gezeigt hat, ist die Empörung dann umso größer. Auffällig ist in jüngster Zeit auch, dass der Erfolg einer Partei wie der SPD auf das einheitliche Bild zurückgeführt wird, das sie abgibt. Das war früher nicht so entscheidend.
Ist gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht auch gebunden an physische Nähe und gemeinschaftsstiftende Erlebnisse, wie sie Musik, Theater und Sport bieten?
Ich würde dem nicht so viel Gewicht beimessen. Sicher, differenziertes Kommunizieren ist nur möglich, wenn wir uns als Personen in der Ganzheit begegnen. Der Rückzug ins Private ist aber ein vorübergehendes Phänomen, und wir haben gesehen, wie schnell sich nach den ersten Pandemie-Wellen das kulturelle Leben wieder eingespielt hat.
Sehen Sie, dass die Corona-Pandemie auch die Chance bietet, das Denken zu verändern?
Wir können uns bewusst machen und wertschätzen, wie gut es uns – wenn auch sicher nicht allen – in den westlichen Industrieländern geht. Und wir erkennen noch stärker als zuvor, wie verknüpft unser aller Leben ist. Für die Klimakrise heißt das: Wir stehen nicht am Rand, sondern mittendrin. Wir sind nicht die edlen Samariter, wenn wir uns für Länder in Afrika engagieren, sondern profitieren letztlich auch davon.