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Eine Porträtzeichnerin im PorträtEin Konterfei in vier Minuten

Lesezeit 4 Minuten

Ihre Wohnung in Sankt Augustin ist gleichzeitig Merle Stankos Büro.

  1. Merle Stankos Leidenschaft ist das Zeichnen. Damit will sich die 28-Jährige gerne einen Namen machen.
  2. Auf vielen Veranstaltungen im Kreis, zeichnet sie Schnell-Porträts - und verdient damit ihr Geld.
  3. Wir haben sie in ihrer Wohnung in Sankt Augustin besucht.

Sankt Augustin – Der Blick ist intensiv. Über den Rand des Zeichenständers mustert Merle Stanko das blonde Mädchen genau, das auf dem Stuhl vor ihr sitzt. Dann beginnt sie, der Bleistift huscht übers Papier. Zehn Minuten hat der Vater des Mädchens ihr gegeben, er schaut neugierig zu. In zehn Minuten wird seine Tochter begeistert ihr Abbild in den Händen halten. Fast wie ein Foto. Aber von Hand gezeichnet.

Merle Stanko porträtiert oft Menschen auf Stadtfesten, etwa auf dem Marktplatz in Siegburg. Es ist eines ihrer festen Standbeine. Sie ist freiberufliche Illustratorin und seit April 2019 selbstständig. Ihre Spezialität: das Minutenporträt. Die Kunden sagen ihr, wie lange sie gezeichnet werden wollen, ob sie ein Schwarz-Weiß-Porträt möchten oder eins in Farbe. Stanko nimmt einen Euro pro Minute, vier Minuten sind das Minimum.

Für ihre Bachelor-Arbeit verwandelte Merle Stanko Mark Twains „Auszüge aus Adams Tagebuch“ in einen Comic.

Früher brauchte sie deutlich länger. Merle Stanko übte auf Comic-Festivals, um Erfahrungen zu sammeln und ihre Arbeit zu präsentieren. „Ich hatte ein kleines Schild mit der Aufschrift ,Porträt zeichnen hier’ und war insgesamt noch deutlich unsicherer“, erinnert sie sich. Stanko nahm sich damals viel Zeit, um die Menschen möglichst detailgetreu zu zeichnen und sie nicht zu enttäuschen. Bis zum fertigen Porträt dauerte es oft eine halbe Stunde und mehr. „So lange wollten die nächsten Kunden aber natürlich nicht warten.“

Alles beginnt mit den Augen

Für die Minuten-Porträts dagegen stehen die Leute Schlange. An guten Tagen hat Stanko bis zu 40 Modelle. Statt des „Porträt zeichnen hier“-Schilds hängt sie ihre gelungensten Arbeiten auf und lässt diese für sich sprechen. Das Erste, was Stanko von dem Mädchen auf dem Siegburger Marktplatz zeichnet, sind die Augen. „Viele fangen mit den Umrissen des Gesichts an. Ich beginne mit den Augen, sie sind das Entscheidende“, sagt Stanko. Im Sekundentakt schaut sie zu dem Mädchen, dann zurück auf ihre Zeichnung. Es folgen Nase, Mund, Haare – in wenigen Minuten fügen sich die Striche auf dem Papier zu einem Gesicht.

In einer Werbebroschüre zeigt Merle Stanko den potenziellen Kunden Beispiele ihrer Arbeit.

Merle Stanko kam schon früh zum Zeichnen. Die Eltern waren beide berufstätig, daher verbrachte sie tagsüber viel Zeit bei ihrer Großmutter. „Wir haben nie einfach nur Fernsehen geguckt“, erinnert sich die heute 28-jährige Stanko. Stattdessen malten sie Bilder, bastelten und verpassten Menschen in Magazinen mit Filzstiften Augenklappen, Piraten-Narben oder bunte Haare. Auch als sie nach dem Abitur Englische und Deutsche Philologie studierte, ließ das Zeichnen sie nicht los. Im Gegenteil: Nach einem Seminar über Erwachsenen-Comics – sogenannte Graphic Novels – fragte sie ihre Dozentin, ob sie die Hausarbeit selbst als Comic zeichnen dürfe. Sie durfte. Und nicht nur das. Auch in ihrer Bachelor-Arbeit waren 20 Seiten gezeichnet: eine Comicversion von Mark Twains „Auszüge aus Adams Tagebuch“.

Merle Stankos Armbanduhr piept, die Hälfte der Zeit ist um. Stanko legt den Bleistift beiseite und greift nach Buntstiften und Aquarell-Kreiden. Sie liegen nach Farben sortiert neben ihr auf einem kleinen Tisch. Das Mädchen trägt einen blauen Schal, ohne zu überlegen wählt Stanko den passenden Farbton. „Zeichnen“, erklärt sie, „heißt vor allem richtig gucken zu lernen“.

Bevor es los geht, werden die Farben akkurat sortiert.

Merle Stanko ist aber eben nicht nur Porträtzeichnerin. Sie will sich als Illustratorin einen Namen machen. Immer wieder schickt sie ihre Mappe an Verlage, knüpft Kontakte zu anderen Illustratoren und Künstlern, arbeitet an ihrem ersten Kinderbuch: Darin geht es um Dinge, die Kinder an Tieren merkwürdig finden. Doch der Markt ist umkämpft, noch hat kein Verlag zugesagt. Für die Tageszeitung Taz hat Stanko zur Fußball-WM eine Sonderbeilage illustriert. „Das war sehr cool, die eigene Arbeit in der Zeitung zu sehen“, erinnert sie sich. Gern würde sie so etwas öfter machen, doch auch hier sind Aufträge selten.

Wohnung gleich Büro

Merle Stanko wohnt in einer kleinen Wohnung in Sankt Augustin, Vermieter sind ihre Eltern. Die Wohnung dient ihr zugleich als Büro: „Zeichnen macht nur die Hälfte meiner Arbeit aus“, sagt Stanko. Ihr Traum wäre es, Mitarbeiter beschäftigen zu können, die sich um ihre Buchführung, Steuern und Werbung kümmern.

Illustratoren

Die Berufsbezeichnung „Illustrator“ ist nicht geschützt, jeder kann sich so nennen. Dementsprechend gibt es viele Wege, den Beruf zu erlernen.

Die meisten, die heute als Illustrator arbeiten, haben ein Studium oder eine Ausbildung mit künstlerischem Schwerpunkt absolviert. Einige sind allerdings auch Quereinsteiger.

Hilfe beim Berufseinstieg bietet der Berufsverband für Illustratoren, in dem auch Merle Stanko Mitglied ist. Die Organisation vertritt die Interessen von Illustratoren in Deutschland, setzt sich für eine angemessene Vergütung ein und berät Mitglieder in Fragen rund um die Selbstständigkeit.

Der Verein Illustratoren-Organisation wurde im Jahr 2002 gegründet und hat heute rund 1900 Mitglieder. (EB)

www.io-home.org

„Und fertig!“ Die zehn Minuten sind um. „Magst du mal schauen?“ In einer Klarsichtfolie überreicht Merle Stanko dem Mädchen ihr Porträt. Es betrachtet das Bild und strahlt Stanko an. Stanko lächelt zurück. Das, sagt die Zeichnerin, sei das Schönste an ihrer Arbeit.