Immer mehr Kinder und Jugendliche in Rhein-Sieg sind armutsbetroffen, beobachten Menschen, die mit jungen Leuten arbeiten. Woran liegt das?
Prekäre LageImmer mehr Kinder und Jugendliche in Rhein-Sieg sind von Armut betroffen

Ein Siegburger Schulleiter schätzt den Anteil an Schülerinnen und Schülern, die aus prekären Verhältnissen stammen, auf mehr als die Hälfte. (Symbolbild)
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Wenn Eltern Anträge auf Kostenübernahme für beispielsweise Klassenfahrten oder Unterrichtsmaterialien stellen, werde es besonders deutlich. „Das tun etwa 60 Prozent“, sagt Jochen Schütz, Schulleiter der städtischen Gesamtschule am Michaelsberg in Siegburg. Der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die aus prekären Familienverhältnissen stammen, steige.
Die Beobachtung des Siegburger Schulleiters spiegelt sich unter anderem in den Ergebnissen des jüngsten Jugendarmut-Monitors. 20 Prozent der unter 18-Jährigen in Deutschland sind demnach von Armut bedroht. Im Rhein-Sieg-Kreis betrug der Anteil der Kinder- und Jugendarmut 2022 laut Sozialberichterstattung 11,4 Prozent der unter 18-Jährigen.
Siegburger Schulleiter: Mehr als die Hälfte der Schüler kommt aus prekären Familienverhältnissen
„Mit prekär meine ich, dass die Familien Leistungsbezieher sind – was in der Regel damit verbunden ist, dass sie einen beengten Wohnraum haben, dass sie finanzielle Schwierigkeiten haben, die die Kinder natürlich auch belasten“, sagt Jochen Schütz. An der Siegburger Gesamtschule am Michaelsberg schätzt er diesen Anteil auf mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler.
Seit geraumer Zeit nehme er wahr, dass sich Stresssituationen und Streitigkeiten unter Schülern beispielsweise in der Vorweihnachtszeit häuften. „Da bekommt man in der Gesellschaft ja überall die Illusion vermittelt, es komme jetzt eine ganz tolle Zeit, es gibt wunderbare Geschenke – wenn so ein Kind das mit seiner Realität abgleicht, passt das nicht“, schildert der Schulleiter.
Auf Kinder in einer größeren Anzahl, bei denen die Eltern nicht wirklich unterstützen können, ist unser Schulsystem unzureichend vorbereitet.
Besonders häufig betroffen seien Kinder mit in Trennung lebenden, oft alleinerziehenden Eltern. Auch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte seien gefährdet, „besonders dann, wenn die Zuwanderung in den Jahren seit 2015 geschehen ist, von denen viele immer noch keine stabile Existenz hier aufbauen konnten“, sagt Schütz.
850 Schülerinnen und Schüler besuchen die Gesamtschule am Michaelsberg. An der gesamten Schule ist ein Schulsozialarbeiter auf einer Landesstelle angestellt, die Stadt Siegburg finanziert zusätzlich eine halbe Sozialarbeiterstelle. „Auf Kinder in einer größeren Anzahl, bei denen die Eltern nicht wirklich unterstützen können, ist unser Schulsystem unzureichend vorbereitet“, sagt Schütz. Wenn niemand zu Hause sei, der die Kinder auffangen könne, liefen diese Gefahr, durchs Raster zu fallen.

Jochen Schütz ist Schulleiter der Gesamtschule am Michaelsberg in Siegburg.
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Dazu kämen Kommunikationsbarrieren mit Eltern, die Unterstützung bei beispielsweise Kostenübernahmen benötigten, wenn diese kein Deutsch sprächen. Kinder, die häufig besser Deutsch sprechen als ihre Eltern, müssten hier oft wie „Außenminister“ ihrer Familie fungieren, so drückt es Schütz aus.
Die Weitervermittlung an externe Institutionen, bei denen Eltern Unterstützung finden könnten, gestalte sich schwierig und sei im Tagesgeschäft für das Lehrpersonal nicht leistbar. „Schülern und Eltern müsste man idealerweise Unterstützung im unmittelbaren Umfeld der Schule anbieten können“, stellt der Schulleiter fest, „mein Traum wäre eine Art ‚Willkommenssekretariat‘, das koordiniert und dann auf Unterstützungsangebote verweisen kann, die drei Türen weiter sind.“
Bürokratische Hürden stehen Bedürftigen im Weg
Jutta Janick vom Projekt „Keine Kinder im Obdach“ des SKM arbeitet mit Familien, die Gefahr laufen, wegen finanzieller Schwierigkeiten ihre Wohnungen zu verlieren. Auch sie sieht in bürokratischen Hürden einen entscheidenden Faktor, der das wachsende Armutsproblem verstärkt. „Oft wissen die Leute gar nicht, was ihnen an Zuschüssen zusteht“, berichtet die Sozialarbeiterin. Außerdem: „Beispielsweise Wohngeld und den Kinderzuschlag muss man ständig wieder neu beantragen. Das ist ein riesiger bürokratischer Akt. Obwohl eigentlich klar ist: Das steht den Familien zu, bis die Kinder 18 sind.“
Für armutsbetroffene Kinder und Jugendliche verringere sich die Möglichkeit, am sozialen Leben teilzunehmen. „Die ganz normalen Dinge, wie gemeinsam mit Freunden ins Kino gehen, da ist einfach kein Geld für da“, sagt Jutta Janick, „und wenn das Handy kaputt ist, kriegen sie so schnell kein neues.“ Sie bekomme auch immer wieder mit, dass Kinder und Eltern Geburtstagseinladungen anderer absagten, weil sie diese nicht erwidern könnten.
Jugendzentrum Deichhaus schafft kostenfreie Ferienangebote für Armutsbetroffene
Auch das Siegburger Jugendzentrum Deichhaus sieht mindestens die Hälfte seiner regelmäßigen Besucherinnen und Besucher von stärkeren Problemlagen betroffen, Armut sei dabei ein oft sichtbarer Faktor. Der Anteil sei schwer einzuschätzen, denn „häufig ist mit diesem Thema sehr viel Scham verbunden“, sagt Patrick Mendel, der das Jugendzentrum leitet. Vor allem die jüngeren Besucher sprächen jedoch eher offen über finanzielle Sorgen zu Hause, so Mendel.
Häufig ist mit diesem Thema sehr viel Scham verbunden.
„Das beste Beispiel ist der Urlaub“, erläutert Mendel, „Kinder oder Jugendliche erzählen, was sie so von Mitschülern hören, was für die anscheinend normal ist – für sie selbst aber in ganz weiter Ferne liegt.“ Mit Angeboten in den Ferien, sei es ein gemeinsames Grillen im Garten oder eine Woche Zeltlager, versucht das Jugendzentrum, einen kostenfreien Ausgleich zu schaffen.
Hier gebe es in jedem Fall mehr Bedarf, als das Jugendzentrum leisten könne, es fehlen aber personelle und finanzielle Mittel. Mendel: „Alles, was wir in diesem Rahmen anbieten, läuft über Drittmittelfinanzierung und Projekte.“