AboAbonnieren

„Wie ein Außerirdischer“Elfriede Zimmermann war August Sanders „Kamerakind“ – Erinnerungen an Weltfotografen

Lesezeit 4 Minuten
August Sander 
Kamerakind erzählt
Fotos der Galerie Julian Sander
ACHTUNG: Noch keine Freigabe zur Veröffentlichung!!!!

August Sander im Winter 1948 an seinem Schreibtisch.

August Sander prägte die Fotografie weltweit zur damaligen Zeit. Elfriede Zimmermann verbrachte viel Zeit mit ihm und berichtet davon.

Für etwa zwei Jahre tauchte Elfriede Zimmermann aus Kuchhausen Mitte der 1950er an vielen Nachmittagen in eine fremde, geheimnisvolle Welt ein. Sie war das „Kamerakind“ des heute weltberühmten Fotografen August Sander.

In dieser bäuerlichen Umgebung hätte sich wohl niemand vorstellen können, welche Bedeutung das Werk des stillen Mannes einmal in der Welt der Fotografie einnehmen sollte. Seine Werke werden in den größten Museen der Welt ausgestellt. Damals lebte er bescheiden bei Nachbarn.

Sander hat großen Einfluss auf Zimmermann

Die heute 76 Jahre alte Elfriede Zimmermann ist erst vor vier Jahren in ihre alte Heimat zurückgekehrt. Dass sie mit 16 Jahren wegging, daran hat August Sander großen Anteil. Hart und einfach sei das Leben in dem entlegenen 100-Seelen-Ort in einem Tal hinter Leuscheid an der Grenze zum Westerwald gewesen. „Für mich war August Sander als Kind ein alter Mann, der nach Baldrian roch“, erzählt Elfriede Zimmermann.

August Sander mit seinem Sohn Gerhard im Garten.

August Sander mit seinem Sohn Gerhard im Jahre 1947.

Sander zog mit der Kamera über der Schulter los, um die Menschen in der Umgebung zu fotografieren. „Er war für uns sehr interessant, denn er hatte einen wunderschönen, großen Garten mit Bachlauf und Blumen angelegt. Dort stand ein Käfig für Jakob, einen gezähmten Raben, der auf Fragen antwortete.“

Zimmermann war das einzige Helferskind

Den Grund, dass Sander ausgerechnet Elfriede zur Helferin machte, vermutet sie im Beruf ihres Vaters: „Wir wohnten nebenan, und mein Vater erledigte alle Schreinerarbeiten für ihn. In einer Box verwahrte Sander Filme, die er selbst entwickelte.“ Elfriede war das einzige Kind, das er in die Dunkelkammer mitgenommen habe. Dort habe sie ihm zur Hand gehen dürfen. „Ich wurde auch getadelt, wenn ich etwas falsch machte. Wenn er fotografierte, durfte ich danach einen kleinen, schwarzen Rand um die Bilder machen.“

Sander, der in Köln-Lindenthal ein Atelier gehabt hatte, war 1944 mit seiner Frau Anna evakuiert worden. Bei Familie Krämer in Kuchhausen mieteten sie ein Zimmer. Auf dem Dachboden richtete er sich ein behelfsmäßiges Atelier und ein Labor ein.

Vier Wochen im Schwarzwald

„Er war vollkommen anders eingerichtet als wir Bauern“, beschreibt Elfriede Zimmermann das mit schweren, dunklen Möbeln und dicken Vorhängen eingerichtete Zimmer. Wenn man die Treppen hochgekommen sei, habe dort die Totenmaske seines Sohnes Erich gehangen, der wegen Mitgliedschaft in der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland von den Nationalsozialisten zu langer Haft verurteilt worden war und 1944 im Siegburger Krankenhaus starb.

Das Esszimmer und die Küche von Anna und August Sander.

Das wohnliche Esszimmer und die Küche von Anna und August Sander in den 1950er Jahren.

Den Sohn Gunther Sander lernte Elfriede kennen. „Er war ein sehr freundlicher Mann, mir kam er wie ein Außerirdischer vor.“ Noch unwirklicher sei es geworden, als eines Morgens Gunther Sander mit einem großen, schwarzen Mercedes vorgefahren sei, um sie und August Sander abzuholen. „Ich durfte als „Kamerakind“ für vier Wochen mit nach Bad Peterstal im Schwarzwald, wo August Sander Freunde hatte.“

In Meersburg am Bodensee legte die Reisegesellschaft einen Halt ein. „Wir gingen essen, die Männer bestellten Schnitzel, aber ich dachte mir, dass ich das bestimmt nicht essen könne, und bestellte mir Spaghetti mit Tomatensoße. Ich war danach von oben bis unten beschmiert“, berichtet Zimmermann lachend. Es habe sie fasziniert, dass es jeden Morgen Brötchen mit Schinken gab. „Es war eine mir unbekannte, reiche Welt.“Sander, auch in gesundheitlichen Dingen seiner Zeit voraus, schenkte ihr Kneipp-Sandalen.

Die Welt endete am Dorfrand

Er habe sich bei den Eltern dafür eingesetzt, dass Elfriede aufs Gymnasium nach Altenkirchen gehen durfte. „Ein einfacher Mann vom Dorf, der sein Kind auf die Schule schickte, wurde als verrückt angesehen“, beschreibt Elfriede Zimmermann eine Welt, die am Dorfrand endete. „Damals mussten noch Schulgeld, Fahrgeld und die Bücher bezahlt werden.“

Das alte Fachwerkhaus in dem August Sander unterkam, mit dem Garten davor.

In dörflicher Idylle kam das Ehepaar Sander im Krieg unter. Aus dem Garten wurde später wieder eine Wiese.

Bei Wind und Wetter fuhr sie jeden Morgen 20 Minuten mit dem Fahrrad durch den Wald nach Rimbach, um von dort mit dem Bus zur Schule zu kommen. „Mein Vater klopfte dafür manche Überstunde. Meine Schwester durfte später auch aufs Gymnasium.“ Sander half bei den Hausaufgaben und beantwortete Fragen, mit denen die Eltern überfordert gewesen wären. „Er hat mir das Fotografieren beigebracht, obwohl er eigentlich kein kinderfreundlicher, sondern ein sehr ernster Mann war. Er schickte mich in den Garten, um Schafgarbe für seinen Tee zu pflücken.“ Sie habe ihm helfen dürfen, die Pflanzen zu trocknen.

„Einmal wurde im Unterricht gefragt, was ein Herbarium wäre. Nur ich wusste, dass es eine Sammlung getrockneter Pflanzen ist. Dafür habe ich eine Eins bekommen.“ Und sie glaubt: „Ohne August Sander wäre ich nie irgendwohin gekommen. Kinder, mit denen man anders spricht, werden anders.“

Aus Garten wurde Wiese

Elfriede Zimmermann wurde Krankenschwester und arbeitete 45 Jahre in Siegen-Weidenau. Ihre Eltern, Margarete und Ewald Grab, hätten August Sander in den letzten Jahren seines Lebens versorgt, bevor er am 20. April 1964 in einem Kölner Krankenhaus starb. Sein einstiges „Kamerakind“ bedauert bis heute, dass sein Garten nach seinem Tod wieder zur Wiese wurde.

„Für einen Garten mit Blumen hatte niemand im Dorf Sinn. In den Garten gehörte Gemüse und auf die Wiese Kühe.“ Auch der Anbau, in dem Sander damals lebte, wurde abgerissen. „August Sander hatte keinen richtigen Draht zu den Menschen im Dorf“, sagt Elfriede Zimmermann. „Er war gut gelitten, blieb aber ein Fremder – und wollte es vielleicht auch sein.“