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Brauch zur SonnenwendeWie es sich anfühlt über glühende Kohlen zu gehen

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Nur Wärme, keinen Schmerz spüren die Teilnehmer beim Gang über die Kohlen.

Ruppicheroth/Much – Ich gehe für mich durchs Feuer. Und das hat nichts mit Egozentrik zu tun, die mir durchaus nachgesagt wird. Nur für mich will ich durchs Feuer gehen, wortwörtlich, ich werde mit bloßen Füßen über einen Glutteppich schreiten. Werde dabei Dinge, die mich belasten, hinter mir lassen, das zumindest verspricht Rolf Iven, Physiker und Feuerlauftrainer. Mein Umfeld reagiert gespalten: Irre, sagen die einen, kopfschüttelnd. Wahnsinn, die anderen, bewundernd.

Wir sind sechs, zwei Pärchen, zwei einzelne Frauen stehen am frühen Nachmittag in einem Raum in einem Hotel in Much. Fünf Privatleute. Eine Reporterin, eigentlich immer auf dem Sprung. Reicht es nicht, abends dazuzukommen? So funktioniert der Feuerlauf nicht, sagt Iven, der Mann aus Ruppichteroth, der sich seit Jahrzehnten mit dem archaischen Brauch beschäftigt und schon Hunderte in diese Grenzerfahrung geschickt hat. Die wenigen, entscheidenden Sekunden brauchen gezielte Vorbereitung. Sonst bringt der Gang als Erkenntnis nur, dass 400 Grad Celsius Brandblasen hinterlassen.

Feuerlauftraining

Es gibt wenige Feuerlauftrainer in Deutschland, der Ruppichterother Rolf Iven ist nach seinen Angaben der einzige Hauptberufliche. Er kam auf einer Reise nach Sri Lanka in Kontakt mit dem Brauch, hat in den vergangenen Jahrzehnten Teams großer Firmen und Einzelpersonen durchs Feuer geschickt. Er verfolge weder einen esoterischen Ansatz, sagt der 54-Jährige, noch setze er den Gang durch die Glut als Motivationstraining ein.

Auch Prominente waren Feuer und Flamme für die Grenzerfahrung. Wie Florian Silbereisen. Der knackte nach dem Training mit Rolf Iven sogar einen Rekord, lief im Jahr 2011 eine Strecke von 25 Metern barfuß über heiße Herdplatten. Rekordhalter war Iven, der 2006 mit 19,10 Metern den Guinness-Weltrekord aufstellte und 2009 auf 22,90 Meter verbesserte. Die Bestleistung seines Schülers sehe er mit Freude: „Ich kann es selber und kann es anderen beibringen.“ (coh)

Was wird der 54-Jährige mit uns machen, welche Tricks packt er aus, versetzt er uns in Trance? Rolf Iven erzählt, das ist seine Kunst. Die Physik sollte nicht alles sein in seinem Leben, er sattelte noch einen Kommunikationstrainer obendrauf, beschäftigte sich mit Kreativität, Psychologie, Coaching.

Wir sechs sind keine Spinner, das beruhigt uns: In Spanien pflegt ein ganzes Dorf diesen Brauch, einmal im Jahr, Touristen dürfen nur zuschauen. In Griechenland, in Peru, in China, in Nepal, auf Sri Lanka spielt das heiße Ritual eine Rolle, im Schamanismus, im Buddhismus, im Christentum. Männer, Frauen, Alte, Junge laufen, tragen einander durch die Glut. Feuerlauf als Initiationsritus, als Abschied, als Beginn von etwas Neuem. Oft zelebriert zur Sonnenwende. Wie in Much. Der kürzeste Tag des Jahres stand kurz bevor. Die Gruppe kommt in Bewegung. Iven legt Musik auf, wir tanzen, jeder für sich.

Wer durchs Feuer gehen will, braucht mentale Stärke, das trichtert uns der Trainer sanft, aber nachdrücklich ein. Oh je, ein Seelenstriptease, bevor wir Schuhe und Strümpfe abstreifen? Nein. Kein Psycho-Gequassel. Eher eine Reise ins Innere.

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Fünf Meter misst die Strecke über glühende Kohlen.

Ich ziehe still Bilanz, das Jahr war ereignisreich, gesundheitliche Probleme brachten mich an meine Grenzen. Iven lässt Bilder vor unserem geistigen Auge erscheinen (von Königen, von Kriegern, immer auch in weiblicher Form), von Farben, von Klängen. Zehn-, zwanzig-, dreißigmal setzen wir in Gedanken den ersten Schritt auf die Glut, den Blick ans Ende gerichtet, auf das, was danach kommt.

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Jetzt kommt’s drauf an. Alle wollen sich trauen. Es ist dunkel, eine große Feuerschale steht auf der feuchten Wiese am Hotel, aus dem Holzstapel lodern die Flammen, die Scheite verändern Farbe und Form, sinken zusammen. Rolf Iven legt mit der Schaufel ein rotes, fünf Meter langes Band. Er geht voran, kehrt zu jedem einzelnen zurück, nimmt Zettel entgegen, Wunschbilder, die jeder für sich gemalt und kein anderer angeschaut hat. Ein zweites, zusammengefaltetes Bild von dem, was wir hinter uns lassen wollen, legen wir ins Gras.

Der eine singt, der andere summt, die eine stapft, die andere geht leichten Schrittes durch die Glut, die wir spüren. Wärme, kein Schmerz. Am Ende ein gemeinsamer Ruf: „Wir sind Feuerläufer.“ Hat niemand eine Brandblase? Er habe sich eine kleine Stelle versengt, sagt einer, „da war ich unkonzentriert“. Er ging ein zweites Mal, fühlte nur den warmen Grund, „wie ein Teppich“. Er zeigt uns seine nackten Sohlen. Keine Wunde.