Er habe einfach Glück gehabt, sagte Michael Schwerk. Er floh 1962 mitten in der Nacht über Bahngleise in den Berliner Westen.
Sein Leben riskiertMichael Schwerk erzählt Pulheimer Schülern von seiner Flucht aus der DDR
Eine Flucht aus der DDR auf Leben oder Tod hat Michael Schwerk Schülern des Geschwister-Scholl-Gymnasiums geschildert. In der Nacht zum 2. Dezember 1962 gelang es ihm, die hoch gesicherten Gleisanlagen der S-Bahn zu überqueren, die an der Bornholmer Brücke so nahe am Berliner Westen vorbeiführten wie an keiner anderen Stelle.
Mit der letzten, menschenleeren Bahn des Tages sei er bis vor die Bornholmer Brücke gefahren und habe die Notbremse gezogen, schildert Schwerk, der heute in Braunsfeld lebt. Dann habe er die Türe des Waggons geöffnet, der noch aus den 1920er-Jahren stammte. Er habe beim „Überfliegen“ eines ersten Sicherheitszaunes erste Leuchtraketen ausgelöst.
Als ein weiterer roter Stern, ein „nicht erlöschendes Leuchtgeschoss“ vom nahen Wachturm das Gelände taghell erleuchtet habe, habe er schon gedacht: „Jetzt ist alles vorbei.“ Er habe vorher nichts vom ehemaligen U-Bahn-Schacht gewusst, in den er – „ein guter Turner“ – habe 4,80 Meter tief springen müssen, um an der gegenüberliegenden maroden Mauer mit allerhand Rissen im Gestein auf der anderen Seite wieder hochzuklettern.
Hätte er davon gewusst, vielleicht hätte er die Flucht gar nicht erst versucht. Als letzte Hürde habe er einen Zaun mit Stacheldraht überklettert, bevor er in den Schrebergärten Weddings hinter Büschen Schutz gesucht habe. An einem Kreisel für Westbusse habe ihn schließlich die Westpolizei in Empfang genommen.
Sechs Todesopfer sind dokumentiert
„Die Volkspolizisten haben noch stundenlang das Gelände abgesucht, da war ich längst in Sicherheit in der Notunterkunft Marienfelde. Ich habe einfach Glück gehabt“, sagte Michael Schwerk. Ein Glück, das andere nicht hatten, sechs Todesopfer sind dokumentiert, Menschen, die an der gleichen Stelle die Flucht aus der DDR versucht hatten. Durch Zufall sei ihm aufgefallen, wie nah die S-Bahn-Strecke am Westen vorbeiführte.
Er sei damals als Soldat in der Garnison Basdorf im Norden Berlins stationiert gewesen, ein Kollege habe „reichlich betrunken“ wohl zufällig dort die Notbremse gezogen. Das habe ihm ein einwöchiges Verhör bei der Stasi eingebracht. Danach sei er immer wieder die Strecke gefahren, um den Zeitplan der Wachpatrouillen zu erkunden. Was ihm zugutegekommen sei, sei sein unauffälliges Erscheinungsbild als scheinbar linientreuer DDR-Bürger gewesen.
Im Inneren habe es „immer gebrodelt“ angesichts der Willkür des autokratischen Einparteien-Staates. Schon bei der Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 habe er als Kind eines liberal eingestellten Elternhauses den Einzug sowjetischer Panzer als Ungerechtigkeit erlebt. Gebrodelt habe es auch bei der Nachricht von Peter Fechter, der am 17. August 1962 im Todesstreifen an der Berliner Mauer verblutet sei.
Er habe niemanden in seine Fluchtpläne eingeweiht, auch nicht die Eltern oder seine drei Geschwister. Anderenfalls hätte er sie als Mitwisser ins DDR-Gefängnis gebracht. Als Student an der Kölner Sporthochschule Köln begann Markus Schwerk ein neues Leben, „ohne die obligatorischen sechs Lehrstunden Marxismus und Leninismus“, die man am Leipziger Gegenstück zur Kölner Sporthochschule habe belegen müssen.
Den Vortrag von Michael Schwerk hatte der ehemalige Vertrauenslehrer des Gymnasiums, Rainer Gramlich, ermöglicht, der mit Schwerk damals Sport studierte. Die Schüler bedankten sich mit viel Applaus und einem Glückwunsch zu Michael Schwerks 80. Geburtstag.