AboAbonnieren

Fährtensucher in größter GefahrGernot Sieger und sein Hund finden vermisste Personen

Lesezeit 6 Minuten
Fährtensucher5

Erftstadt – Es erwischte Gernot Sieger erst, als sein Einsatz längst vorüber war. Beinahe 24 Stunden waren seit der Suche nach einem 84-jährigen Vermissten vergangen. Das bittere Ende der Aktion mit dem Fund der Leiche schien schon verarbeitet. Da folgte doch noch der emotionale Absturz. Der gewohnte Ablauf von Anspannung, Verdrängung und Erleichterung war außer Kraft gesetzt. „In mir hat es auf einmal peng gemacht, ich war total fertig“, sagt der Erftstädter. „Ich weiß auch nicht, warum mich diese Leiche so mitgenommen hat. Vielleicht war es einfach eine zu viel“, mutmaßt der 54-Jährige.

Je frischer die Spur des Vermissten ist, umso besser für die tierischen Spürnasen.

Zwei Dutzend Mal hatte er sich zuvor schon als Leiter einer Spürhunde-Staffel auf die Suche nach dementen Senioren, suizidgefährdeten Menschen oder Kleinkindern gemacht. Und sechsmal waren der Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins Mantrailer West und seine Mitstreiter genau wie die Einsatzkräfte der Polizei zu spät gekommen, hatten mit ihren Hunden nur noch Leichen statt Lebende gefunden.

Spürhund Lando kann Einsatz kaum erwarten

„Das gehört dazu. Wer sich bei uns engagiert, nimmt diesen Ausgang in Kauf“, sagt der Vater zweier erwachsener Söhne. Überhaupt sei diese Geschichte eigentlich harmloser gewesen als manch anderer Fall. Der alte Mann habe sich schließlich keineswegs verlaufen, sondern sei schnurstracks zum Grab seines einst besten Freundes auf dem Friedhof gegangen und habe sich dort mit Tabletten und reichlich Alkohol das Leben genommen, erklärt Sieger. Er habe den Mann schließlich in einem Gebüsch gefunden und schnell gemerkt, dass es für jede Hilfe zu spät war.

20 Mitglieder zählt der ehrenamtlich tätige Verein Mantrailer West derzeit, sechs  Fährtenhunde können eingesetzt werden, weitere werden ausgebildet.

Die eigentliche Suche hatte zuvor Lando, sein achtjähriger Tschechoslowakischer Wolfshund, übernommen. Der ausgebildete Personenspürhund hatte in der Wohnung des Senioren eine Fährte aufgenommen und sein Herrchen an der Leine zu dem Vermissten geführt. „Das hat keine Viertelstunde gedauert“, sagt Sieger, der dank professioneller Beratung schnell wieder für weitere Einsätze bereit war. 34 sind es inzwischen geworden – an vielen Orten im Großraum Köln.

Helfer der Polizei

Menschen wie Sieger und Hunde wie Lando werden also gebraucht. Denn immer wieder stoßen Polizei und andere offizielle Rettungskräfte bei der Suche nach Vermissten an ihre Grenzen. „Dann rufen uns Angehörige oder Mitarbeiter von Pflegeheimen an und bitten uns um Hilfe“, sagt der Erftstädter.

Im Gegensatz zur Polizei, die bestimmte Areale auch in unwegsamen Gelände mit dem Einsatz von Hundertschaften, Wärmebildkameras und anders ausgebildeten Flächenspürhunden gründlich und schnell absuchen kann, haben Mantrailer-Staffeln ihre Vorteile bei der gezielten Suche nach einer bestimmten Person – nahezu unabhängig vom Aufenthaltsort. „Menschen verlieren beständig Haare und Hautschuppen. Die Bakterien, die dieses Material abbauen, erzeugen dabei offenbar Gase, die von Hunden differenziert wahrgenommen werden können.

Zigarettenkippe genügt als Fährte

Es genügt, wenn die ausgebildeten Spürhunde an einer Schuheinlage, einer Zahnbürste, einem Kleidungsstück oder einer Zigarettenkippe des Gesuchten riechen“, sagt Sieger. Dann sind die Vierbeiner bereit für die Suche – und im Falle der Erftstädter Staffel in zwei Drittel der Fälle erfolgreich. Ihr Geruchssinn ist derart gut, dass sie sich auch in vollen Geschäften und auf belebten Plätzen nicht ablenken lassen. „Selbst bei kurzen Autofahrten reißt die Fährte nicht ab.“

Für die Hunde ist es ein Spiel. Für die Vermissten geht es nicht selten um Leben und Tod. „Wenn eine alte demente Frau bei winterlichen Temperaturen das Pflegeheim verlässt und sich verläuft, besteht früher oder später Lebensgefahr“, sagt der 54-Jährige, der einst als Notfallsanitäter in Diensten der Bundeswehr stand, dann im Einzelhandel und schließlich in der Filmbranche tätig war.

Seit Kindertagen Hundefan

Inzwischen widmet er sich auch beruflich seiner größten Passion: den Spürhunden – er bildet die Tiere und ihre Halter aus. Er ist daher eingespannt, wenn andere freihaben, abends und am Wochenende. Reich werde man dabei nicht, aber er wolle nichts anderes mehr machen, betont Sieger, der seit Kindertagen das Zusammenleben mit Hunden gewohnt ist.

MDS-KR-2018-02-19-71-129097741

Training muss sein auch für Gernot Sieger und seinen Hund Lando.

Der Lohn für sein Engagement beim Mantrailing, wie die Personensuche mit Hilfe von Spürhunden bezeichnet wird, ist jedoch gleich null – jedenfalls finanziell betrachtet. Dabei ist der Bedarf gewaltig. Rund 1.400 Mantrailing-Einsätze habe es im vergangenen Jahr in Nordrhein-Westfalen gegeben, sagt der 54-Jährige, Tendenz steigend. Das liegt vor allem an der zunehmenden Zahl von Menschen mit Demenz. In rund der Hälfte der Einsätze gehe es darum, verwirrte Menschen zu finden. An zweiter Stelle steht die Suche nach Menschen, die sich das Leben nehmen wollen. Nur bei jedem zehnten Einsatz gilt es, Kinder wiederzufinden, die ihre Eltern aus den Augen verloren und sich verlaufen haben.

Rettung und Klarheit

Die Idee, den Geruchssinn der Hunde zu nutzen, entstammt einem düsteren Kapitel der Geschichte der Neuen Welt. Plantagenbesitzer vergangener Jahrhunderte hielten sich Spürhunde, um nach entflohenen Sklaven suchen zu können. So kam auch die englischsprachige Bezeichnung Mantrailing zustande: „trail“ bedeutet ins Deutsche übersetzt „verfolgen“. Heute gehe es aber, so Sieger, darum, Menschenleben zu retten oder zumindest den Leichnam eines Vermissten zu finden und so für Klarheit zu sorgen. Schließlich erzeuge die Ungewissheit über das Schicksal eines Angehörigen ein noch schlimmeres Gefühl als eine bittere Nachricht und die Trauer, meint der 54-Jährige.

Schon eine Zigarettenkippe des Gesuchten kann zur Fährte werden.

Bester Beleg dafür sind die Dankesbotschaften, die den 20 Mitglieder zählenden Verein auch von den Angehörigen Verstorbener erreichen. Diese Anerkennung ist wohl auch ihr Antrieb, die Tätigkeit fortzusetzen und damit Freizeit für Workshops und Fortbildungsseminare zu investieren und selbst nachts aufzustehen, wenn das Notfall-Handy klingelt. „Innerhalb von 20 Minuten bin ich angezogen, habe ich meine Kollegen informiert, einen Kaffee in der Hand und sitze am Steuer“, sagt Sieger, Vater zweier erwachsener Söhne.

Seinem Begleiter Lando dauert selbst das zu lange. „Er wird ungeduldig und kann den Einsatz kaum erwarten.“ Ohnehin sei der Hund unglaublich motiviert. Es brauche keine Leckerlis am Einsatzort, nur in den Stunden danach eine Menge Lob. „Dann kommt Lando alle 20 Minuten, um sich eine Streicheleinheit abzuholen, und natürlich bekommt er auch mal ein Stück Fleischwurst.“

Hund braucht Talent und Motivation

Derzeit verfügt der Verein, dessen Mitglieder aus dem Großraum Köln stammen, über sechs einsatzbereite Hunde. Weitere absolvieren noch die dreijährige Ausbildung.

Grundsätzlich eignet sich jeder Hund, unabhängig von Rasse und Stammbaum. Doch nicht jeder bringt Talent und Motivation mit. „Es bedarf schon eines genauen Blickes, um zu erkennen, ob es sich lohnt, ein Tier zum Mantrailing auszubilden“, sagt Sieger. Der Hund muss Spaß an der Suche haben und das nötige Selbstvertrauen besitzen, um die Frage nach „links oder rechts“ im Einsatz selbst zu beantworten. Auch der Hundeführer sollte gewisse Qualitäten mitbringen. Vor allem muss er gewillt sein, dem Vierbeiner blind zu vertrauen.

Im Gegensatz zu offiziell gelisteten Mantrailer-Teams, die von Behörden für Einsätze bezahlt werden, arbeitet die Erftstädter Hundestaffel ehrenamtlich und finanziert ihre Ausgaben durch Spenden und die Beiträge der Mitglieder. Das soll auch so bleiben. „Wir wollen nicht, dass jemand zögert, uns zu kontaktieren, weil er die Kosten scheut. Dadurch könnte wertvolle Zeit verloren gehen“, sagt Sieger. Es gehe schließlich bei seinem Engagement nicht um irgendeine Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern um die Rettung von Menschenleben. Davon ist er überzeugt, und dieser Glaube hilft ihm auch, wenn eine Suche mit dem Auffinden eines Leichnams ein bitteres Ende findet.