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MigrationsgeschichtenWas Zugezogene in Bergheim alles zu erzählen haben

Lesezeit 3 Minuten
Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt vier Musiker, adrett gekleidet mit Anzügen und Fliegen.

Gino Fidanza (Erster von rechts) zeigte im Zeitzeugenkurs der Gesamtschule Bergheim alte Fotos mit seiner Band.

Viele Menschen haben in Bergheim ein neues Zuhause gefunden. Ihre Geschichten sammelte ein Kurs an der Gesamtschule Bergheim.

Als Gino Fidanza in der Gesamtschule Bergheim von seinem Leben erzählte, wollten gleich mehrere Schülerinnen und Schüler seine Geschichte aufschreiben. Ein Blick in seine Biografie lässt schnell erkennen, warum: 1939 geboren, durchlebte er mit sechs Jahren das Ende des Zweiten Weltkrieges, verbrachte später wilde Jahre voller Swing mit seiner Trompete, hatte eine eigene Radiosendung in der Türkei, fand die Liebe in Deutschland und kam 1968 nach Quadrath-Ichendorf, wo er eine chemische Reinigung ins Leben rief.

Gino Fidanza sitzt in der Bibliothek der Gesamtschule mit einigen Schülerinnen und Schülern in einem Stuhlkreis.

Gino Fidanza erzählte im Zeitzeugenkurs der Gesamtschule Bergheim seine Geschichte

Ginos Biografie ist nur einer der Schätze, die die Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule ausgegraben haben. Unter Anleitung der Geschichtslehrerin Elisabeth Amling haben sie verschiedene Zeitzeugengespräche mit Menschen geführt, die ihre Heimat verlassen und in Bergheim ein neues Zuhause gefunden haben.

Bergheim: Ein Kurs erzählt die Geschichten von Zugezogenen

Teilweise haben die Schülerinnen und Schüler auch ihre Angehörigen für das Projekt gewonnen. Es war für sie ein willkommener Anlass, um sich intensiver mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. „Frau Amling hat uns gefragt, ob wir Leute kennen, die bereit wären, etwas zu erzählen. Da ist mir direkt meine Mutter eingefallen“, sagt die Schülerin Asye-Su Gül. Ihre Mutter Ayten Gül gehört einer Nachfolgegeneration türkischer Gastarbeiter an und wuchs in Quadrath auf.

Die Lebensgeschichten der Zeitzeugen sind dabei sehr verschieden: Manche kamen als Gastarbeiter, andere als Geflüchtete. Die jüngste Zeitzeugin, Samia Kiji, ist eine Mitschülerin. Die 2006 geborene Jesidin stammt aus Shingal (Irak) und musste 2014 mit acht Jahren vor dem IS fliehen. Mit Viktoria Lognivennko hat auch eine Geflüchtete aus der Ukraine ihre Geschichte erzählt.

Bergheim: Schüler kritisieren den derzeitigen Umgang mit Migration

Um diesen Geschichten gerecht zu werden, haben die Schülerinnen und Schüler das historisch-politische Hintergrundwissen für die Migrationsbewegungen erarbeitet und Interviewtechniken gelernt, um nach dem Gespräch mit ihren Zeitzeugen einen Text darüber zu schreiben. Eine Gruppe hat auch im Archiv gewühlt, um Daten zu Migration nach Bergheim zu erheben und mit einer Grafik aufzubereiten.

Doch die Schulgruppe beschäftigt neben der Geschichte auch der aktuelle politische Diskurs. „Dass diese vielfältigen Kulturen zusammenkommen, ist für mich nichts Negatives“, stellt Asye-Su Gül fest. „Heutzutage ist das eine sehr schwierige Geschichte, finde ich. Wir vergessen das Gute an Migration.“

Der Schüler Jonathan Tschackert ist der Ansicht, dass man zunächst einmal die Migrationsgeschichten kennen muss, um zu verstehen, was es für eine Aufgabe ist, in einem anderen Land anzukommen. „Es wird sehr viel darüber diskutiert, ohne mit den Personen zu reden. Wir müssen miteinander reden, nicht übereinander.“

Bergheim: Migrationsgeschichten nach auf Website gesammelt

Die verschiedenen Biografien hat der Kurs auf einer Website gesammelt. So können Menschen nicht nur von den Geschichten erfahren, sondern auch von einigen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler. In einem Gedicht beschreibt eine Schülerin einen Konflikt, den viele Kinder aus migrantischen Nachfolgegenerationen nachfühlen dürften: Das Ertrinken in Dankbarkeit dafür, dass die eigenen Eltern so viel für ihr Kind zurückgelassen haben, und gleichzeitig das Pflichtgefühl, deshalb das Beste aus den Möglichkeiten zu machen, die man geschenkt bekommen hat.

Ein anderer Schüler beschreibt, dass seine Familie von einem Zuhause geträumt hat, er aber nicht wisse, wo seins ist. „Sehe Hass in mancher Menschen Augen, doch das macht nichts, ihr Hass ist ein Teil, ein Teil von meinem Zuhause“.

In Ginos Fall hat es etwas gedauert, bis er in Bergheim wirklich heimisch wurde. Wie er den Schülern erzählte, sei Quadrath-Ichendorf ihm damals vorgekommen wie das Ende der Welt. Aber die Musik half ihm: Er spielte mit seiner Jazzband in Schützenfesten und sang 50 Jahre lang beim Ichendorfer Kirchenchor mit. Spätestens 1982/83 bewies er, dass er zu Bergheim gehört: Da war er Teil des Ichendorfer Dreigestirns.