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„Rauschs Wiese“Die 21 Toten von Kürten-Spitze

Lesezeit 4 Minuten

Kürten – Die 21 Toten, die zwei Tage lang in der Frühjahrssonne lagen, hat Hans Kirch (79) noch vor Augen. Auch nach so vielen Jahren. „Neugierig wie wir Kinder waren, sind wir da jeden Tag hingegangen und haben geguckt. Wir wohnten ja ganz in der Nähe.“ Kirch ist einer der letzten Augenzeugen der Geschehnisse von Kürten-Spitze, heute vor 70 Jahren. Es waren Polizisten und Soldaten, versprengte Einheiten, die am letzten bergischen Kriegstag im Dorf Spitze starben. Kurz vor 8 Uhr am Samstag, dem 14. April 1945, auf einer Wiese unterhalb des Wohnorts. Erschossen von vorrückenden amerikanischen Soldaten.

Einheimische kennen den Ort der Erschießung als „Rauschs Wiese“. Er liegt im Nachbardorf Dorpe, unweit des Wäldchens an der heutigen Wohnstraße Dicker Busch. Wer heute auf der Landstraße von Herrenstrunden nach Spitze fährt, sieht die Wiese zu seiner linken.

Vermutlich falscher Verdacht

Die Namen der Toten sind bekannt. Richard Obermüller aus München, Johann Meyer aus Bremervörde, Friedrich Krebs aus Wernigerode, Wachtmeister, Gendarmen, Obergefreite laut Eintrag in das Sterberegister der Dürscheider Pfarrei. Eine zusammengewürfelte Truppe, die erst am Tage zuvor Spitze erreicht hatte und im Keller der einzigen Gastwirtschaft des Orts übernachtet hatte. Die Männer wurden verdächtigt, auf die GIs geschossen zu haben.

Es war eine Verwechslung, denn tatsächlich sollen es Wehrmachtssoldaten gewesen sein, die schweres Feuer von der Spitzer Straßenkreuzung aus eröffnet hatten. Aufgeklärt worden sind die Ereignisse bis heute nicht: Unbekannt ist, wer auf die Amerikaner hat schießen lassen, unbekannt ist auch, weshalb die zufällig in Spitze angetroffenen Männer derart drakonisch bestraft wurden. Staatsanwaltliche Ermittlungen Anfang der 60er-Jahre liefen ins Leere. Augenzeuge Hans Kirch hat eine Vermutung. Die GIs hätten angenommen, die Bewohner würden sich ergeben. Weiße Fahnen hätten an vielen Häusern gehangen. Mit Widerstand hatten die aus Herrenstrunden anrückenden Truppen offenbar nicht gerechnet. Kirch weiß noch, dass bis in den frühen Samstagmorgen Spitze unter Beschuss lag, zahlreiche Häuser getroffen wurden.

Am Morgen stürmten die Amerikaner durch den Ort, durchsuchten Häuser und Keller. Alle Bewohner, 80 bis 100 Menschen, wurden zusammengetrieben, die Fremdarbeiter sofort entlassen. Mit erhobenen Händen standen die Verbleibenden – Bewohner, Ausgebombte aus Köln, Soldaten und Polizisten – vor dem Gasthaus, alle voller Angst. Es war Roger Vidal, ein Kriegsgefangener aus Frankreich, der die Bevölkerung rettete.

Einheimische durften gehen

Er ergriff als erster das Wort, in einem Kauderwelsch aus Französisch und Englisch erklärte er, dass er in Spitze gut behandelt worden sei. Vidal war in der damaligen Krautpresse als Helfer untergebracht gewesen.

Die GIs ließen sich tatsächlich überzeugen: Die Einheimischen durften gehen. Nicht aber die Soldaten und Polizisten. Hans Kirch weiß noch genau, dass die Toten nebeneinander auf der Wiese vor dem Wäldchen am Dicken Busch gelegen haben. „Alle hatten Schiffchen als Kopfbedeckung an.“

Der erste Tote in der Reihe, ein junger Soldat Anfang 20, habe Grasbüschel in der Hand gehalten, sein Gesicht sei vor Schmerz verzerrt gewesen. Ein deutscher Offizier habe 15 bis 20 Meter vor der Leichenreihe gelegen. „Der hatte eine Schildkappe auf, deshalb haben wir gewusst, dass er einen besonderen Rang gehabt hatte.“

Zwei Tage später seien die Leichen nach Dürscheid zum Friedhof gebracht worden. „Unser Vater und ein Nachbar haben die Toten auf Pferdefuhrwerke und Leiterwagen aufgeladen.“ Kirch vermutet, dass der Leichenzug an der Spitzer Jakobus-Kapelle hinunter nach Dürscheid zog.

Erinnerungen an die Geschehnisse haben auch Albert (76) und Jakob Keller (77), Landwirte aus dem Nachbardorf Bölinghoven. „Die Panzer sind angerückt in Reih und Glied, als Beschuss kam, fuhren sie langsam zurück“, entsinnt sich Albert Keller. Granaten flogen in den Tagen des Einmarsches zum elterlichen Hof, durchschlugen Wände, setzten die Scheune in Brand. Sieben Kühe seien in den Flammen verendet. „Nur der Ochse hat überlebt.“

Ein Splitter steckt noch heute im Rahmen des Abendmahlbildes. Auch in den Außenwänden sind noch mehrere geflickte Stellen zu sehen. „Es gab kein Wasser, wir haben mit Milch gelöscht.“ Bei einer Sache sind sich die Brüder einig: „Das waren Idioten, die auf die Amerikaner geschossen haben.“

„Was sollen wir gegeneinander aufrechnen? Wer hat den Krieg angefangen?“ Bedächtig blättert Wilfried Kley, Jahrgang 1946, in seinen Unterlagen. Der langjährige Vorsitzende der Kapellengemeinschaft Spitze hat die Geschehnisse akribisch untersucht, er kann fast Stunde um Stunde berichten, was sich an jenem Schicksalstag ereignete. „Es hätte noch viel schlimmer kommen können“, meint Kley.

Noch Jahre nach der Exekution hätten die Kühe auf der Weide die Erschießungsstelle gemieden. Ein dunkelgrüner Fleck habe den Ort des Dramas angezeigt. Auf Kleys Initiative wurde 1995 in Spitze das Ehrenmal für die Opfer aufgestellt.