Azam Alsultan aus Bergisch Gladbach kann nach Wochen der Angst gemeinsam mit seinen Kindern aus Gaza ausreisen: „Wir sind durch die Hölle gegangen."
Krieg in NahostApotheker aus Bergisch Gladbach schafft es endlich, raus aus Gaza zu kommen
Azam Alsultan aus Bergisch Gladbach will in den Herbstferien eigentlich nur für ein paar Tage seine Verwandten in Gaza besuchen. Dann stecken der Apotheker und seine beiden Kinder nach Ausbruch des Krieges dort fest. Am vergangenen Samstag können sie als eine der letzten Deutschen nach Wochen der Angst endlich ausreisen: „Wir sind durch die Hölle gegangen“, sagt Azam Alsultan, Inhaber der Sonnen-Apotheke im Stadtteil Hand.
Und der Albtraum hält an. „Nachts schrecke ich hoch und höre noch die Raketeneinschläge“, klingt Azam Alsultan immer noch aufgewühlt. Gemeinsam mit Sohn (16) und Tochter (14) reist er am 2. Oktober nach Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen. Hier ist er geboren und aufgewachsen. Zum Pharmazie-Studium ging er nach Deutschland, wo er seine Frau Isabel kennenlernte und eine Familie gründete.
Die ganze Familie mit Mutter und Bruder beschließt zu fliehen
Im letzten Jahr ist Alsultans Vater gestorben. „Ich wollte meine Mutter besuchen. Sie ist 85 und leidet sehr unter dem Verlust“, erzählt der 49-Jährige. Ehefrau Isabel Hanisch-Alsultan bleibt zu Hause, denn im laufenden Geschäft muss ein Apotheker permanent im Geschäft sein.
Doch dann kommt der 7. Oktober, das Massaker der terroristischen Hamas mit mehr als 1200 Toten in Israel, mit mehr als 200 verschleppten Geiseln und den seitdem erfolgten Gegenangriffen der israelischen Armee. Alsutlan und seine Familie — darunter die Mutter, ein Bruder, Cousins und Cousinen — beschließen zu fliehen.
Häuser werden mit Raketen beschossen.
„Direkt an der Grenze zu Israel war es zu gefährlich.“ Mit zwei Autos machen sie sich auf den Weg nach Dschabaliya, ebenfalls im Norden des Gazastreifens, wo eine Tante wohnt. „In ein Hotel zu gehen oder eine Wohnung zu mieten, kam nicht infrage. Wir hätten Hamas-Kämpfern in die Arme laufen können und die sind gnadenlos brutal“, sagt Alsultan.
Die kurze Fahrt nach Dschabaliya sei ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Aus dem Autofenster sehen sie, wie Häuser mit Raketen aus Flugzeugen beschossen werden. Riesige Staubwolken aufsteigen. Trümmerhaufen zurückbleiben: „Die Köpfe meiner Kinder habe ich nach unten gedrückt, damit sie das nicht sehen.“
Alsultan schafft es, Kontakt zur Deutschen Botschaft zu bekommen: Sein Name und die Namen seiner Kinder stehen endlich auf der Liste derjenigen, die ausreisen dürfen. Ein Versprechen zu einer Evakuierung habe man ihm aber nicht geben können.
Zu Hause in Bergisch Gladbach hat Isabel Hanisch-Alsultan zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mehr zu ihrem Mann und ihren Kindern, telefonisch nicht, nicht mal per SMS. „Ich wusste nicht, ob sie noch leben. Ich wusste einfach gar nichts mehr“, sagt sie, hängt stundenlang in den Warteschleifen der Hotline fest. Kommt sie durch, habe sie keinerlei Informationen erhalten. Sie sei enttäuscht von der fehlenden Unterstützung seitens des Auswärtigen Amtes bei der Ausreise. „Die Momente der Ungewissheit waren die schlimmsten“, sagt sie und fügt hinzu: „Wir wissen gar nicht, wie gut wir es hier in Deutschland haben.“
Im Haus der Tante hält es die Familiengruppe nur drei Tage aus. Sie hören es: Die Bombenangriffe rücken immer näher. Der Familienrat beschließt, der Aufforderung Israels nachzukommen, in den sicheren Süden weiterzuziehen. Das Auswärtige Amt warnt Alsultan in einer Nachricht, dass die Ausreise über den Grenzübergang Rafah auf eigene Gefahr stattfinde: „Wägen Sie Ihr Risiko genau ab“, heißt es.
Im Flüchtlingslager gibt es keinen Strom
Auf der Fahrt die Küstenstraße entlang zur UN-Flüchtlingsschule in Deir el-Balah an der südliche Grenze von Gaza, hält Alsultan seine weiße Kappe aus dem Fenster. In dem Flüchtlingslager gibt es keinen Strom, kein Wasser, meist kein Netz, keine Betten, nur ein überfülltes Gebäude mit über 8000 hungernden und frierenden Menschen, berichtet Alsultan.
Seine Familienmitglieder können zusammenbleiben, hocken in einem Klassenzimmer und warten. „Die hygienische Situation ist katastrophal“, berichtet er. Sich waschen und kochen auf Gaskochern, das geht nur mit Salzwasser aus dem Meer. Sehnsüchtig wartet er auf Informationen des Auswärtigen Amtes – aber es gibt oft kein Netz.
Die Ausreise selbst verläuft ohne Probleme
Die Angriffe kommen immer nachts, sagt Alsultan. „Wir haben als Familie eng zusammen gesessen und versucht, uns mit Kartenspielen abzulenken.“ Seine Kinder seien sehr tapfer gewesen. Dann kommt endlich die erlösende Nachricht, dass Alsultan mit Tochter und Sohn auf der Liste steht und sie mit dem nächsten Flieger nach Frankfurt aus reisen können.
Die Ausreise selbst sei ohne Probleme verlaufen. Am Grenzübergang Rafah steigen Vater und Kinder in einen Minibus ein und werden für eine Nacht in einem Hotel in Al-Arisch in Ägypten untergebracht. Die Deutsche Botschaft sei vor Ort gewesen und habe die Flugkosten vorgestreckt.
Die Freude, es geschafft zu haben, sei unbeschreiblich. Aber bei Azam Alsultan bleibt die quälende Ungewissheit, ob seine Angehörigen überleben. Alle harren weiter in der UN-Schule aus. Sein Elternhaus in Beit Lahia ist bei Bombenangriffen komplett zerstört worden. „Wir haben es meiner Mutter noch nicht gesagt“, sagt Alsultan. Sein Cousin habe aber bereits angekündigt: „Wir gehen zurück. Und wenn wir im Zelt wohnen.“
Krieg in Nahost
Vom Gazastreifen drangen am 7. Oktober Terroristen der militant-islamistischen Hamas nach Israel ein und töteten mehr als 1200 Menschen. Es war die bislang blutigste Terrorattacke auf israelischem Boden. Israel reagierte mit Luftangriffen. Etwa 240 Geiseln werden noch in der Gewalt der Hamas vermutet. UN-Organisationen sprechen von mehr als 10.000 Toten im Gazastreifen — mit Verweis auf das Gesundheitsministerium in Gaza, das unter der Kontrolle der Hamas steht. (ub)