Während einer Atlantiküberquerung begegnet Michael Atug und zwei Mitsegler einem Holzboot, in dem die Leichen von mutmaßlichen Geflüchteten liegen.
Auf offener SeeWipperfürther wird Zeuge einer schrecklichen Tragödie

Der Wipperfürther Michael Atug (53) auf dem Segelboot, auf dem er mit zwei Freunden zurzeit über den Atlantik nach Guadeloupe fährt.
Copyright: Michael Atug
Es ist Tag elf einer rund dreiwöchigen Atlantiküberquerung auf einem Segelboot. Mitten im Atlantik, auf offener See, rund 2000 Kilometer westlich von Afrika, auf Höhe der senegalesischen Küste, sichten der Wipperfürther Michael Atug und seine beiden Mitsegler Marius und Philipp ein auf den Wellen schaukelndes Holzboot. Als sie sich nähern, nehmen sie beißenden Verwesungsgeruch war. Ihre schreckliche Ahnung bewahrheitet sich: In dem Holzboot liegen Tote, offenbar geflüchtete Menschen aus Afrika.

In diesem alten Holzboot muss sich auf offener See eine furchtbare Tragödie abgespielt haben. Wir zeigen hier absichtlich ein unscharfes Foto.
Copyright: Michael Atug
„Der ganze Boden des zirka acht Meter langen, schweren, uralten Holzbootes lag voll mit abgemagerten Körpern“, schildert Atug geschockt. „Zirka zehn Männer und Frauen und vermutlich auch Kinder. Schwer zu sagen“, so Atug, „die Leichen waren bereits entstellt. Wie die dahin abtreiben konnten, wissen wir nicht. Aber sie müssen von der Hitze gegrillt worden sein und auf fürchterlichste Art und Weise verhungert und verdurstet sein.“ Vermutlich war das Boot, ausgerüstet mit einem kleinen Motor, auf dem Weg nach Europa, vielleicht Richtung Kanarische Inseln, abgetrieben.
Von den Kanaren in die Karibik
Eigentlich hatte der Wipperfürther die Einladung, auf einem Segelboot mit zwei Freunden den Atlantik zu überqueren, schon abgelehnt, auch wenn es gleich reizvoll klang.
Startpunkt: La Palma, die kanarische Insel vor der afrikanischen Nordwestküste. Ziel: das karibische Archipel Guadeloupe. Rund drei Wochen, so der Plan, sollte das dauern, „plus Inselhopping. Immerhin sind da ja auch noch St. Lucia, Grenada, Dominica drumherum. Also mindestens 30 Tage.“ Er selbst würde zurück fliegen, sein Kumpel Marius würde sich mit anderen Mitreisenden auf den Rückweg über die Azoren machen, auf dem Seeweg.
Diese armen Menschen sind einfach niemandem etwas wert. Offenbar noch nicht einmal der eigenen Regierung.
„Ich habe sofort nein gesagt“, berichtet Atug. Unter anderem, weil der von ihm organisierte Multichannelday, eine große E-Commerce-Messe in Köln, Mitte Mai stattfindet. Doch seine Frau war anderer Meinung: „Die hat gesagt, ich muss das machen! So eine Chance würde man normal nie bekommen – und wenn, dann nur einmal im Leben. Sie sagte, sie kenne mich und wüsste, dass ich das irgendwie schaffe. Sie ist einfach der Hammer.“
Atug sagte also doch zu. Heute oder morgen werden er und seine beiden Mitreisenden in Gouadeloupe wieder festen Boden unter den Füßen haben. Sie bringen Bilder von ihrer Reise mit, die sie ihr Leben lang nicht vergessen werden. Schlimme Bilder.
In den Sozialen Medien hatte der 53-jährige Experte für Onlinehandel und Digitalisierung immer wieder von unterwegs über seine Gefühlslage berichtet – Elon Musks Starlink macht es möglich. „Dieser elfte Tag meiner Atlantik-Überquerung hat mich in den Grundfesten erschüttert“, schrieb er nach der Begegnung mit dem Holzboot.
Erschüttert zeigt er sich auch über die Reaktion der Behörden, die von den deutschen Seglern gleich benachrichtigt wurden. „Damit ihr mal wisst, wie so was abläuft – spanische Küstenwache: ,Nicht unser Zuständigkeitsbereich'. Dann hat uns die senegalesische Küstenwache kontaktiert, weil die Leute von sich vermuten. Wir haben alle Daten durchgeben und am Ende gefragt, was die nun machen würden. Nix!“

Der rote Punkt mitten im Atlantik markiert die Stelle der Begegnung mit dem kleinen Boot.
Copyright: Grafik: Torsten Sülzer
Atug sieht kommen, „dass das Meer das nun regeln wird. Wir haben einen Hai dort schwimmen sehen und uns erst nichts dabei gedacht. Aber das liegt wohl am bestialischen Geruch und den Todessäften, die durch die Planken des uralten Bootes tropfen. Irgendwann kippt es oder gammelt unten durch und dann gibt es halt eine billige Seebestattung.“ Dass das Boot noch geborgen wird, hält er für ausgeschlossen. „Diese armen Menschen sind einfach niemandem etwas wert. Offenbar noch nicht einmal der eigenen Regierung.“
Ich denke, ich hätte den Trip nie machen dürfen, weil mir jetzt erst recht klar geworden ist, wie gefährlich die Reise mit einem kleinen Zehn-Meter-Segelboot ist.
Am Donnerstag meldet sich Michael Atug wieder in den sozialen Medien: „Tag 17 der Atlantik-Überquerung . . . Ich gehe auf dem Zahnfleisch. Versuche mich zu beschäftigen, aber Bücher lesen mag ich nicht mehr. Filme schauen eh null Bock, sinnlos am Handy daddeln habe ich mir ausdrücklich verboten.“
Ein touristisches Vergnügen ist der Segeltörn nicht. Wenig Ablenkung, vieles passiere wie im Delirium. „Du kannst draußen nirgendwo wirklich gut sitzen. Zu eng, zu hart. Mir tut alles weh. Laufe nur gebückt und immer langsam und vorsichtig, weil hier ein falscher Schritt dein Todesurteil sein kann.“ Die Klamotten zwölf Stunden am Tag klamm. Die Enge auf dem Zehn-Meter-Segelboot beschreibt er als für drei Menschen fast grenzwertig.

Der Wipperfürther auf dem Segelboot.
Copyright: Michael Atug
Niemand weiß, wie viele Passagiere in dem mutmaßlichen Flüchtlingsboot saßen, als es in See stach. Erfahrungsgemäß stopfen skrupellose Schlepper so viele Menschen in die Boote, wie es eben geht. Was mit denen passierte, die nicht mehr im Boot liegen, darüber kann nur spekuliert werden.
Seit der Begegnung mit dem Holzboot weiß Atug, dass seine Unannehmlichkeiten „Quatsch mit Soße“ sind. „Uns geht es soweit ganz gut. Aber ich denke, ich hätte den Trip nie machen dürfen, weil mir jetzt erst recht klar geworden ist, wie gefährlich die Reise mit einem kleinen Zehn-Meter-Segelboot ist. Vielleicht werde ich aber auch nach meiner ersten Pina Colada auf Guadeloupe denken, dass das eine Erfahrung war, die ich machen musste.“