- Die Verzweiflung der Menschen, die damals ihre Heimat zurücklassen mussten, hat sich tief in die Erinnerung der Wiehler gebrannt.
- Siebenbürgische Kreisgruppen erinnern an die Menschen, die damals ihre Heimat verlassen mussten.
Drabenderhöhe – 12. September 1944: Laut trommelnd läuft der Gemeindediener durch das siebenbürgische Dorf Botsch. Er ruft alle Bewohner dazu auf, ihre Höfe zu verlassen. „Der Russe steht vor der Tür.“ Die Glocken der Kirche rufen zum Abschiedsgottesdienst.
Heute erinnern die siebenbürgischen Kreisgruppen ab 19 Uhr im Drabenderhöher Kulturhaus an den „Großen Treck“, mit dem sich die Deutschrumänen vor 75 Jahren gen Westen aufmachten. Die Verzweiflung der Menschen, die damals ihre Heimat zurücklassen mussten, hat sich tief in die Erinnerung von Susanna Kräutner (92) und ihrem Cousin Michael Hartig (89) eingebrannt.
Abschiedsschmerz
Die Alten klammern sich im Haus fest, wollen nicht weg. Brüllend laufen Kühe, Schweine und Schafe durch das Dorf. Die Bauern haben die Tiere hinausgetrieben, damit sie in den Ställen nicht verhungern. Sie sollen sich ihr Futter auf den Feldern suchen. Die damals 17-jährige Susanna und der 14-jährige Michael denken, es gehe nur „für einige Tage hoch in die Karpaten“, um sich zu verstecken. Sie ahnen nicht, dass es für viele eine Flucht ohne Wiederkehr sein würde.
Das Nötigste wird auf Planwagen gepackt: Essen, Decken und Bekleidung. Susanna lenkt den Ochsenkarren, auf dem sie und ihre Mutter sitzen. „Ich kannte die Tiere von der Feldarbeit.“ Vater Johann nimmt den Pferdewagen, auf dem der kranke Großvater gebettet wird. Wagen für Wagen, insgesamt rund 600, rollen auf die Straße. Der Weg ins Ungewisse beginnt.
Wochen voller Qual
Wochen voller Qual liegen vor den Menschen. Einige Flüchtende sterben, wie der Großvater von Susanna und Michael. Die Strapazen sind zu groß. Die meisten Frauen laufen mehr als 1000 Kilometer von Siebenbürgen nach Österreich zu Fuß. Den Platz auf den Wagen haben sie den Alten, Gebrechlichen und kleinen Kindern überlassen. Die verzagten Gesichter sehen Kräutner und Hartig noch heute vor sich. Die Wagen, die auseinanderbrechen, Pferde mit abgelaufenen Hufen und die wunden Klauen der Ochsen. „Und immer wieder Tiefflieger, vor denen wir uns verstecken müssen. Bei Dunkelheit darf kein Feuer brennen“, berichtet Susanna Kräutner.
„Nahe der Donau hieß es: Die Russen sind schon hinter uns! Wenn sie uns einholen, treiben sie uns in den Fluss. Die Angst saß mir im Nacken und ich schlug mit der Peitsche auf die armen Ochsen ein, die kaum noch laufen konnten. In meinem Kopf hämmerte es: Lauft, lauft, lauft, wir müssen die Brücken passieren, bevor sie gesprengt werden.“
Endloser Weg
Ihr Flehen wird erhört. Bei Esztergom überqueren sie die Donau. Völlig entkräftet erreichen die Botscher am 2. November das österreichische St. Pölten. Am nächsten Tag fällt Schnee. „Die Flucht war für uns Kinder in dem Alter eher ein Abenteuer“, sagt der jüngere Michael Hartig. „Wir haben unterwegs die Felder geplündert, da gab es Obst, Gemüse und auch Mais für die Pferde.“
Pfarrer i.R. Kurt Franchy hat es anders in Erinnerung. Er musste als Neunjähriger mit seiner Mutter und zwei erst drei und elf Monate alten Geschwistern Klausenburg verlassen. „Tag und Nacht hören wir Jagdflugzeuge, Bomben fallen.
Nachts ist der Himmel hell erleuchtet, weil die Angreifer bündelweise sogenannte Stalin-Kerzen abwerfen. Die Leuchtkörper sollten helfen, Ziele besser zu finden.“ In Österreich wird der Neunjährige auf den Kriegsdienst vorbereitet, lernt den Umgang mit der Panzerfaust. Als ältestes Kind in der Familie bettelt er bei Soldaten um Milch für die Geschwister.
Viele Siebenbürger gehen nach dem Krieg wieder zurück in die alte Heimat, so auch die Eltern der damals 17-jährigen Susanna. „Das war ein Fehler. Als wir im Juni 1945 nach Botsch zurückkamen, erlebten wir eine böse Überraschung: In unseren Häusern lebten Rumänen, Sinti und Roma.“
Die Aufnahme
Siebenbürgische Familien wurden aufgenommen, wenn sie sich verpflichteten, für diese Leute zu arbeiten. „Wir mussten in unseren eigenen Weinbergen als Knechte arbeiten“, empört sich Kräutner. Erst 1977 kann die Familie Siebenbürgen verlassen und findet in Drabenderhöhe eine neue Heimat.
Auch die Franchys kehren zunächst zurück nach Siebenbürgen. Kurt Franchy antwortet auf die Frage, wie er die Erlebnisse verarbeitet hat: „Nie!“ Noch immer habe er quälende Träume. „Heute mehr denn je, weil ich mehr Zeit habe, die Gedanken laufen zu lassen.“