Oberberg – Wenn der Waldbröler Arzt Dr. Johannes Schlechtingen am Samstag in seiner Praxis an den Kühlschrank tritt und nach den kleinen Flaschen mit dem Impfstoff von Astrazeneca greift, dann nicht, um damit Spritzen zu füllen: 192 Dosen werden in den Mülleimer fallen, sie haben ihr Verfallsdatum erreicht. Weitergeben kann – und darf – der Mediziner diesen Impfstoff nicht. „Mit einigen Kollegen hatte ich überlegt, solche Dosen zu sammeln und sie nach Rumänien oder Tansania zu schicken. Denn dort wird Impfstoff gerade dringend benötigt“, erzählt der Waldbröler.
Aber genau das verbietet seit dem 20. Juli ein Erlass aus dem Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Weil Impfstoffe Eigentum der Bundesrepublik Deutschland sind, darf allein die Bundesregierung diese spenden. Zuvor war das Verfahren mit nichtbenötigten Mengen nicht geregelt. „Jetzt darf ich sie allein anderen niedergelassenen Ärzten und Betriebsärzten überlassen oder darf sie an ein Impfzentrum zurückgeben“, erklärt Schlechtingen, der selbst das Impfzentrum des Oberbergischen Kreises in Gummersbach leitet.
„Astrazeneca ist tot.“
Doch auch die Kollegen winken zurzeit ab: „Sie benötigen keine neuen Impfdosen mehr, erst recht nicht die von Astrazeneca“, sagt Schlechtingen. Denn wer heute die Wahl habe, der lasse sich lieber mit den Stoffen von Biontech, Moderna oder auch von Johnson & Johnson immunisieren. „Astrazeneca ist tot.“
Beschleunigt habe dies die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts, bei sogenannten Kreuz-Impfungen auf die Mittel anderer Hersteller zurückzugreifen. Und es habe nicht zuletzt jüngst eine gewisse Impf-Flaute eingesetzt: „Selbst im Zentrum hatten wir zuletzt nur noch 150 Impfungen am Tag von vormals bis zu mehr als 1000.“ Sollte diese Flaute anhalten oder der Erlass nicht zurückgenommen werden, landen bei Dr. Johannes Schlechtingen im Oktober weitere 84 Dosen von Astrazeneca im Eimer.Beim Medizin- und Sicherheitsdienstleister Rescue Service in Marienheide-Müllenbach stehen zurzeit sogar 2000 Impfdosen auf der Kippe, und zwar von Johnson & Johnson.
Grotesker geht es nicht
„Deutschland, insbesondere NRW, hält zusammen heißt es gerade, wenn wir an die jüngste Hochwasser-Katastrophe denken. Das ist gut so. Für die Corona-Krise gilt das nur bedingt und erst recht nicht mehr, wenn es darum geht, anderen Menschen jenseits der Grenzen in der Not zu helfen.
Aber wir können ja auch gar nicht anders: Wochen, ja sogar Monate haben die Mediziner, zum Beispiel hier in Oberberg, auf eine Anleitung gewartet, was mit nichtbenötigten Impfdosen zu tun ist. Das regelt seit kurzem jener Erlass aus Düsseldorf, der den Ärzten, die Impfmittel übrig haben, allein den Weg zum Abfallcontainer weist. Erst kam Impfstoff nicht in ausreichenden Mengen, nun gibt es zu viel davon, aber mit absehbarer Haltbarkeit – grotesker könnte es kaum sein. Zumal längst wertvolle Zeit verronnen ist, die den Medizinern eine sorgfältige und sorgsame Planung erlaubt hätte, sodass weniger, vielleicht sogar keine Impfdosen übrig wären.
Dass diese nicht von den Ärzten gespendet werden dürfen und wegen der endenden Haltbarkeit wie hier in Oberberg nicht mehr rechtzeitig an den Bund zurückgegeben werden können, ist nicht weniger als ein Skandal. Denn wer helfen will und menschlich sein möchte, der darf es in diesem Fall nicht.“
„Davon können wir vielleicht noch gute 200 Dosen an Ärzte und Betriebsärzte geben“, hofft dort Geschäftsführer Heiner Grütz. Er macht die ausreichende Verfügbarkeit der Biontech- und Moderna-Stoffe dafür verantwortlich: „Denn bei den anderen ist der Ruf inzwischen zu schlecht.“ Eigentlich liefere Johnson & Johnson mit einer Haltbarkeit von drei Monaten. „Doch das, was wir nach extremen Engpässen im Juni danach bekamen, war nur noch einen Monat lagerbar.“ Die Idee, diese Dosen in Gebiete zu bringen, die vom Hochwasser betroffen sind, lasse sich aufgrund der schwierigen Lage in den Kommunen nicht mehr fristgerecht umsetzen, bedauert Grütz.
Immer mehr Impftermine bleiben heute offen
Auch er stellt fest, dass immer mehr Impftermine ungenutzt bleiben: Von 250 möglichen Terminen auf dem Firmengelände würden jetzt nur noch 50 am Tag wahrgenommen, sagt Grütz und betont: Ursache sei nicht die Impfmüdigkeit der Oberberger. „Vielmehr ist jeder, der geimpft werden will, heute versorgt.“
Dem stimmt Dr. Schlechtingen zu: Er habe in seinen Räumen an der Brölbahnstraße rund 3800 Oberberger gespritzt. „Wer wirklich geimpft werden wollte, der ist gekommen.“ Dass er jetzt andernorts gefragte Dosen entsorgen muss, das sei für einen Hausarzt wie ihn „einfach nur absurd und schrecklich“.