MissbrauchSkepsis über sinkende Fallzahl in Corona-Zeiten
Oberberg – Eine Häufung der Missbrauchs- und Kindeswohlgefährdungsfälle ist im Oberbergischen während des Corona-Lockdowns nicht zu beobachten gewesen. Zu diesem Ergebnis ist das Jugendamt des Kreises gekommen. Es hat sogar rückläufige Zahlen von Verdachtsmeldungen registriert. Diese Tendenz bestätigen auch die Jugendämter in Gummersbach und Wiehl. Allerdings betonen alle Ämter, dass durch die Schließung von Schulen und Kitas wichtige Informationsquellen für Verdachtsfälle über Monate weggefallen sind, so dass die Zahlen nicht bedeuten müssen, dass die Fälle von Missbrauch und Kindeswohlgefährdung tatsächlich zurück gegangen sind. Zu diesem Schluss kommt auch der Gummersbacher Hilfsverein Nina + Nico.
„Aufgrund der Schließung von Kindergärten und Schulen während des Lockdowns hatten wir Sorge, dass wir unsere Wächterpflicht nicht im gleichen Maße ausüben können“, erklärt Andrea Stawinski, Leiterin des Wiehler Jugendamts. Diese Einrichtungen seien von großer Wichtigkeit für die Arbeit des Jugendamts bei der Aufdeckung von Missbrauchsfällen und Kindeswohlgefährdungen im Allgemeinen. „Deshalb haben wir im Internet und mit Broschüren darum gebeten, jeden Verdacht zu melden. Natürlich haben wir die bekannten Fälle weiter begleitet und kontrolliert“, erklärt die Stawinski.
Gesprächstermine seien während des Lockdowns telefonisch durchgeführt worden. In dringenden Fällen wurden auch Hausbesuche durchgeführt. Laut Stawinski waren die Wiehler Kitas ohnehin stetig im Kontakt mit Familien, um diese während des Lockdowns zu unterstützen.
Zahlen des Kreises
292 Meldungen von Verdachtsfällen auf Kindeswohlgefährdung sind laut Mitteilung des oberbergischen Kreisjugendamts im Zeitraum vom 1. Juli 2019 bis zum 30. Juni 2020, eingegangen und bearbeitet worden. Im Kalenderjahr 2019 waren 365 Meldungen eingegangen.24 Prozent dieser Gefährdungsmeldungen führten laut Auskunft des Kreisjugendamts zur Feststellung „einer Kindeswohlgefährdung, beziehungsweise einer latenten Kindeswohlgefährdung“. Dies betrafen das körperliche, seelische oder geistige Wohl eines Kindes.Die Meldungen erreichen das Jugendamt von Schulen, Kitas, Nachbarn oder Polizei. Wird ein Verdachtsfall gemeldet, werde diesem entsprechend der Standards nachgegangen. Dazu gehört insbesondere die umgehende Beratung jeder Mitteilung mit Fachleuten. Die Erstberatung wird nach dem Vier-Augen-Prinzip durchgeführt.Je nach Art und Inhalt des Verdachtsfalls werden weitere Schritte eingeleitet. „Dies kann ein sofortiger Hausbesuch bis hin zu einer Einladung in die Sprechstunde des Jugendamts sein“, heißt es vom Kreisjugendamt. (fm)
Beim Verein Nina + Nico, der Kinder, Familien und Frauen in Fällen von sexueller Gewalt berät, ist die Problemlage ähnlich: In den Wochen des Lockdowns kam es zu keiner Häufung von Beratungsgesprächen, berichtet Monica Weispfennig vom Vorstand des Vereins. Den Hauptgrund sieht sie in der Schließung von Schulen und Kitas. „Diese sind für unsere Arbeit maßgeblich, vor allem für die Prävention und Beratung, und kontaktieren uns bei Verdacht auf Kindesmissbrauch .“
Bei Verdachtsmeldungen von sexueller Gewalt gegenüber Kindern werden verschiedene Fachinstitutionen wie Rechtsmedizin, Kinderschutzambulanzen, Beratungsstellen, Ärzte, Polizei und Staatsanwaltschaft herangezogen, wie Jascha Baumert, Pressesprecher der Stadt Gummersbach, erläutert. „So legen wir mit Hilfe der Zusammenarbeit von verschiedenen Fachleuten die weitere Vorgehensweise fest. Dabei geht es um die Frage, ob eine Strafanzeige gegen den mutmaßlichen Täter durch das Jugendamt erstattet wird und zu welchem Zeitpunkt therapeutische Behandlungen eingeleitet werden.“ Zudem werde geklärt, ob das Kind in der gewohnten Umgebung bleiben kann oder ob eine sofortige Inobhutnahme notwendig ist, um das Kind vor weiteren Gefährdungen zu schützen.
Dunkelziffer höchstwahrscheinlich in Oberberg hoch
Für den Schutz des Kindeswohls und den Kampf gegen Missbrauch müsse noch mehr getan werden, sind sich Weispfennig und Baumert einig. Denn selbst wenn weniger Fälle von Kindesmissbrauch und Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdung dokumentiert wurden, sei die Dunkelziffer höchstwahrscheinlich in Oberberg hoch, glaubt Weispfennig.
Stadtsprecher Baumert wünscht sich, dass bei Verdachtsfällen von sexueller Gewalt an Kindern zügig und zeitnah Hausdurchsuchungen und Beweissicherungen durchgeführt werden müssen. „Aus unserer Sicht wäre dies sehr hilfreich, vor allem im Hinblick auf die Sicherstellung elektronischer Datenträger. Nach unserer Kenntnis gibt es keinen Täter, der nicht schon im Vorfeld einer Tat über entsprechende Medien – beispielsweise Kinderpornografie – auf Datenträgern verfügte.“ Um das Problem auch auf politischer und struktureller Ebene zu bekämpfen, könnte der Gesetzgeber Kinderrechte explizit im Grundgesetz aufnehmen, sagen Weispfennig und Baumert. Kinder sollten als vollwertige Menschen und Bürger anerkennt werden.
Monika Weispfennig glaubt, dass die Sensibilisierung und Fortbildung von Polizei- und Justizbeamten zum Thema sexueller Missbrauch auf Kinder und dem Effekt auf deren Psyche ein weiterer wichtiger Schritt sei. „Wenn sich unsere Kinder uns wegen sexueller Übergriffe anvertrauen, müssen wir sie sofort ernst nehmen. Statistisch gesehen muss aber derzeit ein Kind drei Erwachsene ansprechen, bis ihm geglaubt wird. Dadurch gefährden wir sie unnötig weiter.“ Wer von einem Verdachtsfall Kenntnis bekommt, sollte nicht die Eltern zuerst darauf aufmerksam machen, da Missbrauch vielfach auch von der Familie ausgehe. Wichtig sei es aber, dass Bürger bei einem Verdacht auf Kindesmissbrauch nicht wegschauen, sondern diesen dem Jugendamt oder Vereinen wie Nina & Nico zu melden. So bekämen sie Rat und leisteten ihren Beitrag, Missbrauch an Kindern zu bekämpfen. Monika Weispfennig sagt: „Das Kindeswohl geht alle an.“