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Interview

Interview
Suchtexperte zur unterschätzten Gefahr von Alkohol

Lesezeit 4 Minuten
Das Foto zeigt leere Flaschen und eine Person im Hintergrund

Alkoholsucht ist weit verbreitet

Bodo Unkelbach leitet seit 2006 die Klinik für Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin in Marienheide. Er warnt davor, die Gefahr von Alkohol zu unterschätzen.

Wie sieht es aus in Oberberg, hat sich in den vergangenen Jahren etwas verändert?

Bodo Unkelbach: Die Entwicklung ist unverändert schlecht, Alkohol ist das gesellschaftliche Hauptproblem Nummer Eins. Es betrifft Menschen jeden Alters und jeder gesellschaftlichen Schicht. Im Schnitt trinkt jeder Erwachsene im Jahr zehn Liter reinen Alkohol pro Kopf. Alkoholische Getränke sind überall leicht verfügbar, sogar nachts an der Tankstelle. Bei uns ist Alkohol in Form von Wein, Bier und Sekt kulturell tief verwurzelt, und er scheint erst einmal Vorteile zu bieten: Er beruhigt, stärkt das Selbstwertgefühl und das Gefühl von Gemeinschaft und Verbundenheit.

Aber dabei bleibt es nicht? Ist schon gefährdet, wer regelmäßig ein Bier oder ein Glas Wein zum Essen trinkt?

Alkohol löst ein Verlangen nach mehr Alkohol aus. Um eine Sucht zu entwickeln, kommen aber immer größere Belastungen in der Lebensgeschichte hinzu. Sei es in der Kindheit, im Berufsleben, in der Beziehung. Alkohol wird dann zum besten Freund, der hilft, sich über Wasser zu halten und wird schließlich wichtiger als alles andere. Es ist wie eine Gehirnwäsche.

Das Foto zeigt Bodo Unkelbach, den Leiter der Klinik für Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin in Marienheide

Bodo Unkelbach leitet die Klinik für Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin in Marienheide.

Man könnte doch einfach aufhören? Warum ist das so schwer?

Tatsächlich bewirkt Alkohol auf die Dauer hirnorganische Veränderungen. Alkohol trübt die Selbstkritik. Das hat nichts mit Charakterschwäche zu tun. Sucht verändert den Charakter, der Kontrollmechanismus ist kaputt gegangen und das lässt sich nicht reparieren. Auch wer nach zehn trockenen Jahren ein Glas Wein trinkt, läuft Gefahr, in der Woche drauf zwei Gläser zu trinken, dann drei und nach sechs Wochen landet er wieder bei der Flasche Schnaps. Viele erleben einen Rückfall und kommen wieder zu uns zurück. Nur rund die Hälfte lebt nach einem Entzug langfristig abstinent.

Wer zu Ihnen in die Klinik kommt, hat sicher oft schon eine längere Geschichte hinter sich?

Fast alle kommen auf Druck von außen, weil ihnen gerade alles im Leben um die Ohren fliegt. Der Arbeitsplatz, die Ehe. Die meisten Patienten sind zwischen 35 und 55 Jahre alt, da wird das Problem sichtbar. Entweder die Partnerin ist mit den Kindern bereits ausgezogen oder droht damit. 75 Prozent der Alkoholkranken sind Männer, während Frauen eher depressiv werden.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

Alkohol gehört bei vielen Männern im täglichen Leben einfach dazu, wird vielleicht auch eher toleriert. Ich erlebe zum Beispiel, dass Väter, wenn sie ihre Jungs am Wochenende zum Fußballspiel begleiten, ganz selbstverständlich Bier trinken. Die Mütter tun das nicht.

Wie sieht es denn aus mit dem Alkoholkonsum der jungen Leute?

Da gibt es immer wieder Phasen. Eine Zeit lang war es das Komasaufen. Das ist zur Zeit vorbei. Dann war es bei jungen Erwachsenen angesagt, auf Alkohol ganz zu verzichten. Zur Zeit geht es viel um Party und Spaß haben. Wenn es heißt, wir gehen feiern, dann bedeutet das immer auch: Suchtmittel konsumieren. Alkohol in der Öffentlichkeit wird positiv erlebt, mit Party und Ausgelassenheit gleichgesetzt. Die negativen Folgen wie Krankheit und Sucht finden dann hinter verschlossenen Türen statt. Wer zum ersten Mal auf eine unserer Stationen kommt, erlebt oft einen Schock.

Was ist denn das Wichtigste bei der Therapie?

Der medizinische Entzug ist leicht. Danach kommt die Motivationstherapie mit dem Ziel, dass die Patienten ihr Leben so nehmen, wie es ist mit allen Höhen und Tiefen, und daraus eine Zufriedenheit entwickeln, die ohne Suchtmittel auskommt. Oft ist nach dem zwei- bis dreiwöchigen Aufenthalt in der Klinik eine Reha oder eine längerfristige ambulante Therapie notwendig.

Wie viele Patientinnen und Patienten werden denn bei Ihnen behandelt?

Im Jahr 2024 wurden 1237 Patientinnen und Patienten in der Suchtklinik behandelt, hinzu kommen Patienten mit alkoholbedingten Schäden an Magen, Leber oder Bauchspeicheldrüse in den Akutkrankenhäusern.

Laut Statistischen Landesamt ging in ganz NRW die Fallzahl der alkoholbedingten Klinikaufenthalte um 16,1 Prozent zurück, in Oberberg dagegen ist sie gestiegen. Wird hier mehr getrunken?

Ich glaube nicht. Es gibt immer statistische Schwankungen. Aber hier fällt es vielleicht eher auf, und der Rettungswagen wird gerufen, wenn jemand betrunken auf dem Bürgersteig liegt als in der Großstadt, wo man an solche Anblicke gewöhnt ist. Hier achtet man mehr aufeinander. Und dann ist der Hausärztemangel hier auf dem Land ein riesiges Problem.

Auch bezüglich des Alkohols?

Ja, der Hausarzt ist ja oft die erste Anlaufstelle, ihm vertraut man, wenn er darauf aufmerksam macht, dass mit der Leber was nicht stimmt. Wenn immer mehr Hausärzte aufhören, haben die übrig gebliebenen mehr Patienten zu versorgen und nicht mehr Zeit für solche Gespräche. Wir haben in Oberberg ein gutes System von Suchtberatungsstellen. Aber können Sie sich vorstellen, zum Gesundheitsamt zu gehen und zu sagen, ich glaube, ich bin Alkoholiker? Da ist die Hemmschwelle doch sehr groß. Viele Patienten bleiben da lange Zeit unversorgt.