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Myasthenia GravisAnna R. aus Bergneustadt – wenn eine Diagnose ein Leben verändert

Lesezeit 6 Minuten

Prof. Dr. Franz Blaes glaubt, auch Anna R. ein fast normales Leben ermöglichen zu können.

Bergneustadt – Eine junge Bergneustädterin wird plötzlich schwer krank. Eine seltene Nervenkrankheit, für die es ausgerechnet im benachbarten Gummersbach einen Experten gibt. Der macht ihr Hoffnung: Sie ist zwar einer der schwersten Fälle, aber auch für sie gibt es Hoffnung. Wir erzählen ihre Geschichte – und die von Myasthenia Gravis.

Es ist der 31. Juli 2017: Anna R. fährt nach ihrer Mittagspause zurück zu der Gummersbacher Tierarztpraxis, in der sie in den vergangenen zwei Monaten ihr Praktikum absolviert hat. Ab morgen soll sie hier ihre Ausbildung beginnen. Sie freut sich darauf.

Während der Autofahrt geht Annas linkes Auge plötzlich komplett zu. Die heute 21-Jährige bekommt Panik, fährt rechts ran. Sie versucht, ihr Auge zu öffnen, doch es reagiert nicht. Nach einer Weile beruhigt sie sich wieder, gewinnt die Kontrolle über ihr Auge zurück und fährt weiter zur Praxis. Als sie am Abend ihrer Mutter von dem Vorfall erzählt, beschließt diese, mit Anna ins Krankenhaus zu fahren.

„Als hätte mir jemand mit einer Pfanne gegen den Kopf gehauen“

Denn schon vor dem Vorfall im Auto war Anna beim Arzt. In den Wochen zuvor hatte sie sich schwach gefühlt und gekränkelt. Es fiel ihr schwer, Dinge anzuheben. Sie hatte zeitweise eine Rechts-Links-Schwäche. Schon da hatte sich ihr Auge irgendwie „schwer“ angefühlt und das Lid zeitweise geflattert.

Myasthenia Gravis

160 Patienten, die an Myasthenie erkrankt sind, sind es etwa, die Prof. Dr. Franz Blaes im Gummersbacher Krankenhaus behandelt. Das Krankenhaus ist von der Deutschen Myastheniegesellschaft als Zentrum zertifiziert worden. In Deutschland seien es 8000 bis 10 000 Menschen, die an der Krankheit leiden, schätzt Blaes.

Das Besondere an der Krankheit: Sie verläuft bei jedem anders, mit unterschiedlichem Schweregrad und unterschiedlich betroffenen Muskeln. Die meisten Patienten erhalten Muskelkraft steigernde Medikamente und Medikamente, die das Immunsystem beeinflussen. Bei manchen Patienten ist auch eine Entfernung der Thymusdrüse notwendig. Um auf die richtigen Medikamente eingestellt zu werden, sind regelmäßige Arztbesuche ein Muss.

Betroffen sind häufig junge Frauen im Alter von 20 bis 30 Jahren. Gerade bei jungen Frauen werde eine Erkrankung häufig nicht erkannt, und oft dauere es länger als ein Jahr, bis die Diagnose gestellt wird, so Prof. Dr. Franz Blaes. Bei Männern tritt die Krankheit in der Regel eher in der zweiten Lebenshälfte auf. (far)

Insgesamt beschreibt sie heute ihren Zustand von damals, als „hätte ihr jemand mit einer Pfanne gegen den Kopf gehauen.“ Und das jeden Tag. Bei einem Arztbesuch im Sommer zum Beispiel wird eine Nebenhöhlenentzündung diagnostiziert und mit Antibiotikum behandelt, aber an Annas Zustand ändert sich nichts.

In der Nacht auf den 1. August bleibt sie auf der Hals-Nasen-Ohren-Station (HNO). Was folgt, ist eine Woche mit unterschiedlichen Tests und viel Ungewissheit. Am nächsten Tag wird Anna in die Neurologie verlegt. Verschiedene Diagnosen werden gestellt und wieder verworfen.

Dann, nach etwa sieben Tagen , bekommt Anna durch einen Test, bei der ein Nerv am Auge wiederholt stimuliert wird, endlich Gewissheit. Professor Dr. Franz Blaes, Leiter der neurologischen Klinik des Gummersbacher Krankenhauses, stellt die Diagnose: Anna hat Myasthenia Gravis (MG). Einfach erklärt ist MG eine seltene neurologische Erkrankung, bei der eine „übermäßige Ermüdbarkeit der Muskulatur auftritt“, sagt Blaes: „Dort, wo ein normaler Mensch seine Muskeln halten kann, wird bei einem Menschen mit MG der Muskel bei längerer Belastung immer schwächer.“

„Mal eben Joggen gehen, ist für Patienten mit Myasthenie nicht möglich“

Für Anna bedeutet das, dass sie ihr Leben wohl nie wieder genauso leben kann, wie sie es zuvor getan hat. „Für mich und meine Mutter ist eine Welt zusammengebrochen“, erzählt sie. Professor Doktor Blaes machte ihr klar: „Es braucht Zeit, bis Sie richtig auf ihre Medikamente eingestellt sind.“ Wenn überhaupt, werde es sehr lange dauern, bis sie in einen normalen Arbeitsalltag zurückkehren kann. Auch die Ausbildung zu ihrem Traumberuf, der Tierarzthelferin, wird sie wohl niemals antreten können – denn der benötigte Kraftaufwand dafür wäre zu hoch.

Was bei Anna R. mit einem vermeintlich harmlosen Erschöpfungsgefühl begonnen hatte, entpuppte sich als Krankheit, die trotz der Medikamente einen großen Einfluss auf ihre Lebensqualität hat. Über den Tag verteilt muss sie nun fünfmal Tabletten einnehmen. Und trotzdem wird sie schnell müde, muss sich hinsetzen und zieht bei längeren Strecken irgendwann ein Bein nach. „Mal eben eine Runde Joggen zu gehen, ist für Patienten mit Myasthenie einfach nicht möglich“, erklärt Blaes. Um ihr die Fortbewegung zu erleichtern, hat Anna mittlerweile einen Rollator und einen Rollstuhl bekommen. Selbst ihre Arme für längere Zeit nach oben zu halten, ist für sie mit enormer Anstrengung verbunden. Kurz gesagt: An einen normalen achtstündigen Arbeitstag ist bisher nicht zu denken. Heute ist Anna R. seit über einem Jahr krankgeschrieben. Ihre Mutter arbeitet nur noch in Teilzeit, und hilft ihr sonst durch den Tag.

„Ich traue mich nur selten alleine raus, weil ich mich nie ganz sicher fühle“

Häufige Krankenhausbesuche, Kortisonstoßtherapie, Entfernung des Thymus, Beantragung eines Behindertenausweises – Dinge, an die Anna bis zum Sommer vergangenen Jahres niemals gedacht hätte. Für sie fühlt es sich an, als habe sie in den letzten Monaten kaum Fortschritte gemacht, denn manche der Tabletten können sehr lange brauchen, bis sie eine Wirkung zeigen.

Trotzdem ist sie insgesamt gesehen stabiler geworden. Eigentlich hätte sie dieses Jahr gerne eine Ausbildung angefangen. Das aktuelle Ziel lautet aber erst einmal: Ohne Hilfe durch den Tag kommen. Daran hält Anna fest. Am schwersten fällt es ihr, anderen ihre Situation zu erklären. Dumme Sprüche, wie „Das geht schon wieder vorbei“ kriegt sie zum Glück selten zu hören.

Aber trotzdem ist es ihr unangenehm, Bekannten erklären zu müssen, warum es ihr sogar nach Monaten gefühlt immer noch gleich schlecht geht. Auch, wenn die 21-Jährige eigentlich nicht mehr geduldig sein will – sie ist eine Kämpferin und muss lernen, auf ihren Körper Rücksicht zu nehmen. Wichtig sind ihr dabei auch ihre Freunde: „Obwohl ich mittlerweile gewisse Strecken alleine gehen kann, traue ich mich nur selten allein raus, weil ich mich nie ganz sicher fühle.“

Da sei es wichtig, dass einen die Freunde aus der Komfortzone holen und zum Beispiel auch mal mit ihr rausgehen. Anna wünscht sich vor allem Verständnis. Ein „Stell dich nicht so an!“ bringt ihr nichts. Denn wenn sie könnte, würde sie garantiert mehr machen, als einen Großteil ihres Tages in der Wohnung und im Bett zu verbringen.

Anna ist eine der Patienten, die zu den fünf Prozent der schwersten Fälle von MG gehört. Professor Dr. Blaes ist trotz allem zuversichtlich: Auch für Anna könne ein fast normales Leben mit nur leichten Einschränkungen erreicht werden. Diese Aussicht gibt ihr Zuversicht und Mut.

Multiple-Sklerose-Tag im Krankenhaus

Eine andere neurologische Erkrankung steht im Mittelpunkt des achten oberbergischen MS-Tages im Kreiskrankenhaus Gummersbach am Samstag, 24. November. Es geht um aktuelle Entwicklungen in der Multiple-Sklerose-Therapie und Alltagsfragen von Patienten.

Der Fokus liegt auf den Auswirkungen einer MS-Erkrankung auf Beruf, auf eine Schwangerschaft oder in höherem Alter. Von 10 bis 14 Uhr können sich Interessierte rund um das Thema informieren. Der Chefarzt der Klinik für Neurologie, Prof. Dr. Franz Blaes, wird die Veranstaltung eröffnen. Danach informieren Dr. Christine Binder, Oberärztin in der Klinik für Neurologie, und Dr. Andreas Sackmann, Chefarzt der Celenus-Klinik Hilchenbach, unter anderem über Immuntherapie und Rehabilitation bei MS-Patienten.

Neben dem Gastgeber Prof. Dr. Blaes halten auch die Psychologin Hanna Lobert von der Deutschen MS-Gesellschaft und Dr. Kerstin Hellwig, Oberärztin am Katholischen Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, Vorträge. Im Anschluss stehen die Spezialisten sowie die MS-Krankenschwestern der neurologischen Klinik Rede und Antwort.

Die Veranstaltung findet am Samstag in Konferenzraum 2 des Gummersbacher Kreiskrankenhauses, Wilhelm-Breckow- Allee 20, statt. (lu)