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Interview

Meinungsforscher zu Karneval
„Menschen freuen sich drauf, sich mal neben der Spur zu bewegen“

Lesezeit 7 Minuten
Szene vom Rosenmontagszug in Köln. Viele Kölner können sich ein Leben ohne Karneval nicht so richtig vorstellen.

Szene vom Rosenmontagszug in Köln. Viele Kölner können sich ein Leben ohne Karneval nicht so richtig vorstellen.

Brauchtum findet man überall, wo Menschen zusammenleben – Im Rheinland fasziniert insbesondere der Karneval. Ein Gespräch mit dem Kölner Meinungsforscher Stephan Grünewald.

Die jecke Session, Schützenfeste und andere Feste und wiederkehrenden Veranstaltungen im Jahr sind für viele Menschen wichtig. Was Brauchtümer ausmacht, wie sie entstehen und wie man sie auch in Zukunft erhalten kann, darüber sprach Dierk Himstedt mit dem Kölner Meinungsforscher Stephan Grünewald vom „rheingold institut“.

Der Kölner sagt salopp „beim dritten Mal ist es Brauchtum“. Inwieweit würden Sie zustimmen?

Das ist zwar ein Spruch, aber es trifft das Phänomen eigentlich ganz gut. Das Brauchtum ist im Kern eine Ritualisierung einer beglückenden Veranstaltung. Man freut sich auf die Wiederkehr des Gleichen. Bereits wenn man die Erfahrung nur einmal gemacht hat, weckt das die Erwartungshaltung, das wieder zu machen zu wollen.

ARCHIV - 07.09.2017, Nordrhein-Westfalen, Köln: Stephan Grünewald, Leiter des Rheingold Instituts.

Stephan Grünewald, Leiter des Rheingold Instituts.

Aber übertreiben die Rheinländer da nicht beim Tempo?

Natürlich ist diese Aussage pointiert und vielleicht auch eine Ansage „Bei uns geht das eben schneller als in anderen Regionen“. Allerdings hat man beim dritten Mal das Wiederholungserlebnis ja schon zum zweiten Mal hinter sich. Und dann kann man das auch festschreiben und sagen: Dreimal ist Brauchtum.

Was braucht's denn eigentlich zum Brauchtum?

Grundlage ist eine bereichernde, beglückende Erfahrung, meist zusammen mit anderen Menschen. Das Brauchtum muss zudem immer vor dem Hintergrund unseres normalen Alltags gesehen und analysiert werden. Der Karneval, das Weihnachtsfest oder was wir sonst an ritualisierten Festen haben, heben sich ja immer ab vom sonstigen oft als grau erlebten Einerlei. Das Brauchtum bietet die Möglichkeit, für eine kurze Zeit Alltags-Routinen zu durchbrechen.

Muss es beim Brauchtum zwingend etwas zu feiern geben?

Es muss nicht immer ausgelassener Überschwang sein wie beim Karneval. Es kann auch festlich zugehen wie bei einer Hochzeit zum Beispiel, wo Formenzwänge in der Kleidung oder im Zeremoniell uns buchstäblich an die Etikette legen.

Was fasziniert die Menschen, daran teilzunehmen?

Es ist das vorübergehende Steigern, Intensivieren oder Auflockern von Routinen im Alltag, die wir zur Genüge im Beruf, aber auch zuhause erleben. Es ist die Möglichkeit, uns selbst, einmal anders zu erleben, mit allen Sinnen zu genießen zu können und gemeinsam mit Gleichgesinnten etwas zu veranstalten. Der damit verbundene Lustgewinn hängt auch mit der zeitlichen Begrenzung dieses Events zusammen. Wir wissen bereits Altweiber, dass das tolle Treiben am Aschermittwoch schon wieder vorbei ist. Die Rückkehr in den grauen, aber auch stabilisierenden Alltag ist somit gewährleistet.

Was sonst noch?

Eine große Rolle spielt sicher auch eine Erwartungssicherheit darüber, was alle Jahre wieder kommen wird. Jeder Teilnehmende weiß, was am 11.11. um 11.11 Uhr passiert: Da fallen viele ungeliebte Regeln, da muss ich nicht arbeiten, ich kann mich verkleiden und schon zum Frühstück Kölsch trinken. Die Menschen freuen sich drauf, sich planmäßig mal „neben der Spur“ zu bewegen und ihren Alltag zu „verrücken“. Im Karneval kann ich mit Perücke oder Pappnase rumlaufen oder in der Bahn sitzen, ohne schräg angeguckt zu werden. Das Unnormale ist dann normal und die Mehrheit macht mit. Das ist ein befreiendes Gefühl, da unterdrückte Wünsche freigesetzt werden.

Wie wichtig ist die Vorfreude auf diese Zeit dabei?

Sehr wichtig. Bei den allermeisten Brauchtumsfeiern fängt die Vorlust schon bei der Vorbereitung an. Beim Karneval zum Beispiel machen sich die Menschen schon Wochen vorher Gedanken über die Kostümierungen, sie bereiten Speisen vor, damit man über die Tollen Tage nicht kochen muss, verabreden sich mit Freunden, organisieren Tickets. Das heißt, man ist oft Wochen vorher bereits auf das Ereignis ausgerichtet. Und diese Vorfreude und Vorbereitung, die wir auch in der Vorweihnachtszeit kennen, ist ganz wichtig, um dann während des eigentlichen Festes in Stimmung zu sein.

Viele Kölner sagen, dass sie ohne den Karneval nicht leben könnten. Rheinländische Übertreibung oder ist da viel Wahres dran?

Da scheiden sich die Geister. Aber die, die den Karneval lieben, für die ist dieses Fest sicher ein Lebenselixier. Colonia ist ja eine Mutterstadt und das Kernversprechen des Karnevals ist es in einen Zustand zu geraten, in dem man einerseits wie bei Muttern rund um die Uhr versorgt wird und andererseits eine Unbeschwertheit wie in Kindertagen erleben kann. Mit taucht gemeinsam in eine närrische Schar ein, in der man rumalbern, balgen oder schwofen kann. Zudem kann man sich seine frühen Wunschträume verwirklichen und Pirat oder Prinzessin, König oder Hexe werden.

Begriffe wie Heimat, Identität bewegen viele Menschen wieder mehr als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Kann Brauchtum dafür inhaltlich etwas liefern?

In Tiefeninterviews, die wir durchgeführt haben, bekommen viele Menschen beim Begriff Heimat glasige Augen und sind ergriffen. Heimat ist immer das versorgende und Wärme ausstrahlende „Mutterland“. Heimat bildet somit einen Gegensatz zu dem strengen Vaterland, das uns in den Wehrdienst schickt und uns Steuern abverlangt.

Mit Heimat verbinden die Menschen daher auch immer regionale Leibgerichte wie den Sauerbraten oder die Rostbratwurst, die man bereits zuhause genossen hat. Mit Heimat ist auch der Wunsch nach einer bedingungslosen Liebe verbunden: Selbst wenn man mal Blödsinn gemacht hat, nimmt einen dann die Mutter in den Arm und verzeiht. Diese Mutterlandsliebe wächst in Zeiten einer unübersichtlichen, globalisierten Welt und steigert die Sehnsucht nach heimatlichen Gefühlen. Köln im Karneval bedient diese Gefühle. Denn auch wenn man komplett jeck, also verrückt ist, darf man mitmachen, wird anerkannt und kann einen mittrinken.

Sinnstiftend oder verharren in alten Sitten und Bräuchen – wo gibt es möglicherweise auch Nachteile bei Brauchtümern?

Beim Sinnstiften kann der Sinn auch mal wieder „stiften gehen“. Der Brauch ist zwar ein Wiedererleben-Versprechen, aber Bräuche müssen auch mit der Zeit gehen und sich entwickeln. Sonst gehen sie irgendwann ein. Wir feiern heute anders Karneval oder Weihnachten als vor 100 Jahren. Es geht immer darum, einerseits die Tradition zu wahren und sie andererseits auch weiterzuentwickeln. Der Komponist Gustav Mahler hat das auf die Formel gebracht: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“

Mit welchen Konzepten kann man denn Brauchtum verändern?

Das geschieht nicht willentlich. Man folgt da eher inneren Impulsen und merkt letztlich, ob eine Veränderung angebracht und auch angemessen ist oder ob sie sie den Brauch entkernt. Wenn sich Gesellschaften verändern, dann kann es auch mal sein, dass es Ansagen von oben oder von unten geben muss, um den Brauch zu entwickeln. Vereinsleben war früher Männersache. Da hat sich was geändert, auch auf gesellschaftlichen Druck hin. Manchmal dauert es allerdings lange, bis das geschieht.

Es gibt diesen „Klaasohm“-Brauch auf Borkum, wo Männer Frauen mit Kuhhörnern auf den Hintern geschlagen haben. Ein Fall, der durch die Presse ging. Wie geht man mit dieser sicher nicht mehr zeitgemäßen Tradition um?

Dadurch, dass das so breit diskutiert wurde, hat sich schon etwas verändert. Viele, die dem Brauch bisher gedankenlos gefolgt sind, haben jetzt ein komisches Gefühl und reden darüber. Letztlich wird dann meist ein Kompromiss gefunden zwischen denen, die das abschaffen wollen, und denen, die alles so belassen wollen, wie es ist. Was nicht sein kann, ist, dass von außen diktiert wird, das dürft ihr und das nicht. Das müssen die Menschen vor Ort schon selbst regeln.

Ein Konzept ist vielleicht, dass man wie bei der Stunksitzung im Kölner Karneval eine Gegenbewegung organisiert, die sich dann irgendwann etabliert und auf die alten Traditionen einwirkt?

Sicher. Eine solche Gegenbewegung ist ja regelmäßig die Geburtsstunde eines Brauchs, der ja immer auch eine Revolte gegen das Alltägliche. Der manchmal so konventionell daherkommende klassische Karneval, wie wir ihn heute kennen, war im Ursprung auch mal eine Alltagsrevolution, eine Gegenbewegung zum strengen preußischen Militarismus. Vielleicht auch durch die Stunksitzung haben wir in den letzten Jahren erlebt, dass der traditionelle Karneval offener geworden ist für neue Einflüsse und sich teilweise sogar neu erfunden hat. Aktuell haben wir ein homosexuelles Dreigestirn, was vor einigen Jahren noch undenkbar war. Es hat sich spürbar etwas verändert. Der „alte“ und der „neue“ Karneval haben sich aufeinander zubewegt.

Könnte eine Gesellschaft eigentlich auch ohne Brauchtum leben? Oder ist das nicht vorstellbar?

Nietzsche hat mal gesagt: „Ein Leben ohne Musik ist ein Irrtum“. Das würde ich auch fürs Brauchtum sagen.