„Genau werfen, nicht heulen!“Wie Leverkusens Tänzerinnen zum Erfolg getrieben werden
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Vier Stunden am Tag, sechs Mal die Woche: Wer Rhythmische Sportgymnastik betreibt, hat keine Freizeit.
In Leverkusen tanzen schon fünfjährige Mädchen in professioneller Manier über das Parkett. Geld verdienen kann man mit dem Sport in Deutschland nicht.
Wozu das Ganze? Wir waren beim Wintercup in der Ostermann-Arena vor Ort, haben uns das Spektakel angesehen und mit Trainerinnen gesprochen.
Leverkusen – Sie weint, schluchzt. Es ist 15.09 Uhr. Alicia weiß kurz vor ihrem großen Auftritt nicht, wo ihr Seil ist. Ein Auftritt vor den Augen ihrer Mama Victoria und ihren Trainerinnen. Vor den Augen von Schiedsrichtern, die exakt bewerten, ob Alicia so unangestrengt und natürlich über die Übungsfläche tanzt und gleitet wie gefordert.
„Du gehst da jetzt raus“, sagt Trainerin Barbara Klima. Und dann geht sie raus, die Neunjährige: Mit gehobenem Kopf, Blick nach vorne. 15.11 Uhr, es ist ihre zweite Darbietung beim Wintercup in der Leverkusener Ostermann-Arena.
„Das bringt ihnen Disziplin bei“
Seit vier Jahren wird sie von ihrer Mutter, Victoria Chevalier-Holz, sechsmal in der Woche zum Training gefahren. Jeweils wird vier Stunden lang geübt. Auch Alicias siebenjährige Schwester macht das ganze Programm mit – „freiwillig“, wie Mama Victoria garantiert. Mit fünf Jahren hat sie ihre Töchter jeweils an die Sportart herangeführt: „Das bringt ihnen Disziplin bei, einen starken Willen.“ Alicia ist Klassensprecherin, das habe „auf jeden Fall etwas damit zu tun.“
Körperbeherrschung, Disziplin, Performance. Alicia bringt all das aufs Parkett, liefert auch ohne ihr gewohntes Seil einen starken Auftritt. „War okay“, sagt Marina Goukova, ihre zweite Trainerin, fast etwas gleichgültig. „Das hier ist Leistungssport“, erklärt die Rumänin. Sie ist sich sicher: „Von den Tänzerinnen hier wird niemand jemals Weltmeister“, das geben die Strukturen in Deutschland nicht her.
Niemand kann hier von Rhythmischer Sportgymnastik leben. Die Spitzensportförderung ist zunehmend an olympischen Medaillen orientiert, und so fließt seit einigen Jahren kein Geld mehr. Wer es überhaupt nach Olympia schafft, wie zuletzt Jana Berezko-Marggrander 2016 in Rio, ist in der Szene eine Heldenfigur.
Ein Popsong von Bruno Mars als Motto
Der Gewinn ist ein ideeller, ein pädagogischer, erklärt Marina Goukova. „Die Mädchen lernen, Ziele zu erreichen. Was hat diese Jugend denn sonst für Ziele? Das hier ist Erziehung.“ Unser Gespräch wird immer wieder unterbrochen, weil Marina ihre Schützlinge vom TSV Bayer 04 vor den Auftritten in kurzen Ansprachen motiviert: „Genau werfen, nicht heulen!“
Die Karriere der in Deutschland ausschließlich weiblichen Sportlerinnen endet, bevor sie erwachsen sind. Irgendwann fehlt die Zeit für das Training, eine professionelle Perspektive gibt es nicht. Im Teenageralter soll also alles abgerufen werden. Alles „für die perfekte Übung“ auf der großen Bühne, wie Pauline erklärt. Sie macht gerade ihr Abitur, beim TSV trainiert sie trotzdem regelmäßig. Das sei „schwierig, aber machbar.
Die Wettbewerbsziele sind eher zweitrangig“, es gehe um Perfektion, nicht um den Vergleich. Trotzdem ist sie vor ihren beiden Auftritten beim Wintercup „sehr aufgeregt“. Ihr gefällt, dass der Turnverein auch ein Freundeskreis ist. Der Wettkampf wurde von den Mitgliedern organisiert, Pauline durfte die Einmarschmusik auswählen. „Ich habe Uptown Funk genommen“, erzählt sie und lacht, fast ein wenig peinlich berührt.
„Don't believe me just watch“, singt Bruno Mars in dem von Pauline ausgesuchten Song. Eine Zeile, die für den quasi unsichtbaren Leistungssport steht: Es geht nicht um Erfolge, Popularität oder Geld. Es geht um Ästhetik. Just watch. Sechsjährige, Zehnjährige, 16-Jährige, alle geschminkt wie Filmstars, gekleidet wie Ballerina. Alle, so scheint es, spielen beim Wintercup in ihrem eigenen Film, sind sich ihrer Wirkung bewusst. Von der Fußspitze ins Spagat, durch den Ring, Salto. Körperbeherrschung und Kontrolle erreichen im gesamten Feld der Teilnehmerinnen einen erstaunlichen Perfektionsgrad.
Leverkusen ist mittlerweile eine Größe in der Nische „Rhythmische Sportgymnastik“, will Schmiden, einer Turn-Hochburg bei Stuttgart, den Rang ablaufen. Für die neue Bundesliga im nächsten Jahr ist der TSV Bayer 04 qualifiziert. Eine Erfolgsgeschichte im Kleinen.
Auch die Geschichte von Alicia endet an diesem Nachmittag übrigens versöhnlich: Sie liegt ihrer Trainerin Barbara in den Armen, überwältigt von allem. Den Tränen nah. Schon wieder.