Klassentreffen nach 50 JahrenDie Kinder der ersten Stunde

Nach 50 Jahren trafen sich die ehemaligen Schüler des Abi-Jahrgangs von 1968 wieder.
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Leverkusen – Die Geschichte des Jahrgangs 68 endete mit einem kleinen Lloyd Alexander vor dem Lehrerzimmer des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums. Friedrich Steinforth hat bis heute Legenden-Status in der Stufe, weil er mit seinem ersten Auto für eine halbe Stunde den Lehrern den Zugang versperrte und damit den Ärger des gesamten Kollegiums auf sich zog. Ein Berufsleben später ist er mit seinen damaligen Mitschülern zurück an diesem Ort. Klassentreffen, 50 Jahre danach.
Heute sind sie ehemalige Ärzte, Richter, Lehrer. Mit Abitur in der Tasche waren die Karrieren sicher. Weniger als fünf Prozent aller Schüler in Nordrhein-Westfalen machte damals den gymnasialen Abschluss, heute sind es zehn Mal so viele. Professoren sind sie damals geworden oder Unternehmer. In Leverkusen aber hat es kaum jemanden gehalten. „Detektivarbeit“ sei es gewesen, sagt Rolf Stratmann, der das Klassentreffen mitorganisiert hat.
Briefe in die halbe Welt verschickt
Er hat Briefe nach ganz Deutschland und in die halbe Welt verschickt. Herausgekommen ist auch eine Begegnung der Abiturienten von gestern mit denen von morgen, die bei der Organisation halfen. Stratmann, Steinforth und all die anderen, die sich an diesem Nachmittag in der Schule treffen, gehören zu den Kindern der Stunde Null an dem Schlebuscher Jungen-Gymnasium. Aus alten Baracken an der Dhünn zog der erste Jahrgang in die neue Schule und legte hier später die Abiturprüfung ab.
Ihre Jugend fiel in eine Zeit des nationalen Protests. Gegen Vietnamkrieg und bleierne Nachkriegs-Strukturen. Gegen Altnazis in Politik und Verwaltung, an Schulen und Universitäten. Auch am Freiherr-vom-Stein standen noch einige von ihnen bis in die 60er an den Tafeln, erinnern sich die ehemaligen Schüler.
Die Ohrfeigen, mit denen sich einer der Kunstlehrer bei seinen Schülern damals Respekt zu verschaffen versuchte, sind ebenso unvergessen wie der Anrede-Knigge im Klassenzimmer. Herr Oberstudienrat. Herr Schüler Meier. Normen, die die Jugendlichen auf die Barrikaden gehen ließen. In einem „Teach-in“ forderten die Schüler am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium mehr Mitbestimmung. Wie überall ging es um politische Weltanschauung, Spielregeln der Demokratie und ums Prinzip. Von „heißen Redeschlachten in der Schul-Aula“ schrieb der „Leverkusener Anzeiger“ am 3. April 1968.

„Heiße Rede-Schlachten“: Der „Leverkusener Anzeiger“ berichtet am 3. April 1968 von einem „Teach-in“ in der Aula des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums.
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Peter Weinbrenner lebt seinen 68er-Traum heute 9000 Kilometer von Leverkusen entfernt, wo er seit den 90ern in Textilien macht. „Ich wollte schon immer in den Wilden Westen“, sagt er heute. Seinen Wilden Westen hat Weinbrenner in Südostasien gefunden, wo er für seine Geschäfte die besten Bedingungen vorgefunden hat. Laos, Vientiane, die Hauptstadt. Für ihn wie ein Paradies.
Mit dem Bulli fuhr er einst bis nach Afghanistan und über den Himalaya weiter bis Indien. In Goa, der Hochburg der Hippies und 68er, hat er sein zwischenzeitliches Glück gefunden. Die Einladung zum Klassentreffen erreichte ihn über seine ehemalige Lebensgefährtin, die heute in Berlin lebt. Den jährlichen Besuch in der Heimat hat der 70-Jährige mit dem Wiedersehen im Klassenzimmer verbunden. Es sei, als habe er sich erst gestern auf dem Schulhof von seinen alten Freunden verabschiedet, sagt Weinbrenner. Die Gespräche fingen heute dort an, wo sie vor 50 Jahren aufgehört haben, sagt er.
Also kommt auch die Geschichte mit den 50 Mark noch mal zur Sprache. Denn die Sache ist noch nicht geklärt. Ein Werbespruch war es, den sich einer der Schüler damals ausdachte und weitererzählte. Zwei Mitschüler reichten den Slogan beim Aktualitätenkino am Kölner Hauptbahnhof ein und bekamen dafür die 50 Mark.
Ebenso unvergessen sind die Gedichte des legendären Witze-Erzählers Heinz Erhardt, die in den Klassenzimmern die Runde machten und offenbar noch heute sinnstiftend für diese Generation sind. Wo früher die Enten im Innenhof der Schule watschelten, zitieren die Abiturienten von nun geschlossen den Erhardt’schen Chor der Müllabfuhr: „Kommt! Lasset von Tonne zu Tonne uns eilen! Wir wollen dem Müll eine Abfuhr erteilen!“
Rebellische Jugend
Die Kinder der ersten Stunde zitieren ebenso frei und sauber die Geschichte von Robin Hood im Sherwood Forest. In den Augen des ehemaligen Englisch-Lehrers Rudolf Preuß ist angesichts des makellosen Englisch fast so etwas wie Rührung zu erkennen. Mit 93 Jahren erinnert sich Preuß noch genau an die rebellische Jugend von 1968.
Einige seiner Kollegen hätten ihre Probleme mit den Schülern gehabt, sagt er. Preuß selbst gehörte zu den ersten einer Lehrer-Generation, die den gesellschaftlichen Veränderungen offen gegenüberstand und entsprechend beliebt bei den Schülern war. Der „Herr Studienrat“ hieß bei ihm „Herr Preuß“, die Schüler duzte er. In der hierarchischen Bildungswelt von einst eine handfeste Revolution. Noch größer als das kleine Auto vor dem Lehrerzimmer.
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