Gesamtschulleiter Thomas Müller spricht über die Gründung, Tiktok-Challenges und andere Herausforderungen.
Schulleiter Müller im Interview„An der Gesamtschule Euskirchen wird niemand alleingelassen“
Thomas Müller leitet die Gesamtschule in Euskirchen. Seit 2014 gibt es die Schulform in der Kreisstadt. Seit Beginn steht der 55-jährige Müller an der Spitze. Nun legt der Gründungsjahrgang sein Abitur ab.
Herr Müller können Sie sich noch an die Anfänge der Gesamtschule erinnern?
Thomas Müller: Klar. Wir sind im sogenannten Gelben Haus an der Ursulinenstraße gestartet: fünf Klassen, acht Räume, ein kleiner Schulhof. Mehr hatten wir nicht, aber das hat auch gereicht. Unser Sekretariat war damals im Schulgebäude der Willi-Graf-Realschule. Nun, nach neun Jahren, macht der Jahrgang nicht nur Abitur, sondern wir geben das Gebäude auch an das Weiterbildungskolleg Bonn ab. So schließt sich ein kleiner Kreis.
Wie viele Schüler von damals machen denn in diesem Jahr ihr Abitur?
Insgesamt sind es 32 Schülerinnen und Schüler. 18 von ihnen sind damals von mir eingeschult worden. Das macht mich schon ein bisschen stolz.
Aber auch bei Ihnen gab es Probleme mit dem Download der ersten Abiturprüfung?
Ich bewundere meine Oberstufenkoordinatorin, die auch das erste Mal in ihrer Funktion Abitur macht. Sie hatte ja noch nie ein Erfolgserlebnis rund ums Abitur und die Sorge, dass sie etwas falsch macht. Hat sie aber natürlich nicht. Am Ende war sie viel entspannter als ich. (lacht)
Gab es bei der Gründung der Gesamtschule Hürden zu überwinden?
Wir mussten innerhalb von zwei Wochen 100 Anmeldungen von Kindern aus dem Stadtgebiet haben. Ich sehe heute noch die Schlange am ersten Tag vor mir. Die Zahl der 100 Anmeldungen hatten wir am zweiten Tag bereits erreicht.
Sie waren damals Leiter der Nordschule in Kuchenheim, eine von zwei Hauptschulen im Stadtgebiet. Sie kennen also beide Schulformen.
Ja. Und beide haben ihre Vorteile. Ich bin ein großer Freund der Gesamtschule, aber ich war auch glücklich im dreigliedrigen Schulsystem. Die Gesamtschule bietet sehr vielen Schülern sehr viele Möglichkeiten – allein an Förderungen.
Was ist denn ein Nachteil?
Die Hauptschule in Kuchenheim war kleiner, familiärer. Ich kenne an der Gesamtschule nicht mehr jeden meiner Schüler mit Namen. Das war in Kuchenheim anders, da wusste ich auch, wie ich mit jedem zu sprechen habe. Bei 1150 Schülern an der Gesamtschule ist das nicht möglich. Ich kenne noch nicht mal alle meine Lehrer so wirklich gut. Aber ganz klar: Nicht jedem Kind tut eine so große Schule gut, weil sie mehr Schlupflöcher bietet.
Gesamtschule Euskirchen: Bald kommt eine neue Aula
Was im Gelben Haus begonnen hat, ist nun ein kleiner Schulcampus, in den gleich drei ehemalige Schulen integriert worden sind. Wie sieht der Alltag an der Gesamtschule in Euskirchen aus?
Die Fünftklässler sind sieben Jahre im Gelben Haus gestartet. Nun haben sie in der ehemaligen Paul-Gerhardt-Schule ihr eigenes kleines Reich. Das hat sich total bewährt. Das kann ich schon nach etwas mehr als einem Jahr sagen. Im ehemaligen Willi-Graf-Gebäude sind die Jahrgangsstufen 6 und 7 untergebracht. Im Gebäude an der Kaplan-Kellermann-Straße, gegenüber der AOK, sind es die Jahrgangsstufen 8 und 9. Und im ehemaligen Kaplan-Kellermann-Gebäude sind die 10er und die Oberstufe untergebracht. Die Sanierung des Gebäudes wird das letzte Mosaiksteinchen sein. Wir werden eine sehr schöne Aula bekommen.
Getrennte Jahrgänge bedeutet auch getrennte Lehrer?
Wir haben kein großes Lehrerzimmer, wie man es vielleicht von anderen Schulen kennt. Wir haben Lehrerstationen. In der Regel ist jeder unserer Lehrer auch Klassenlehrer, Tutor. In den Schulgebäuden haben wir für sie Lehrerstationen eingerichtet. Das hat sich bewährt, hat aber den Nachteil, dass das Miteinander etwas verloren geht.
Was sind Sie lieber – Schulleiter oder Lehrer?
Ich liebe es, Schulleiter zu sein, aber Unterrichten ist auch immer wieder ein bisschen Erholung. Es macht tierisch viel Spaß, mit Kindern Lernerfolge zu erzielen. Lehrer zu sein ist ein Traumjob. Ja, die Klientel hat sich verändert, aber dennoch ist vieles sehr schön.
Was sind die Herausforderungen eines Schulleiters in der heutigen Zeit, die es 2014 nicht gegeben hat?
Es verändert sich so viel. Die Schülerklientel hat sich verändert, aber das ist ja auch normal. Als ich mit meinem Referendariat begonnen habe, sagte mir mein Mentor, dass das die schwierigste Schülergeneration ist, die es je gegeben hat. Das war 1997. Heute ist das die gute, alte Zeit. Was sollen denn die Kollegen heute sagen? Plötzlich gibt es irgendwelche Challenges, die bei TikTok viral gehen. Beispielsweise die Toiletten-Verwüstungs- oder die Ohrfeigen-Challenge.
Schulleiter Thomas Müller: „Man steht im Kreis verteilt und kassiert Ohrfeigen“
Davon waren Sie persönlich aber nicht betroffen. Also von der Ohrfeigen-Challenge?
Nein (lacht). Aber wir als Schule hatten damit schon zu tun. Ich saß vollkommen verwirrt mit zehn jungen Männern zusammen bei uns in der Mediathek, die eigentlich alle vernünftig sind. Sie sind aber von Kollegen hochgeschickt worden, weil sie sich geprügelt hatten. Nach langem Hin und Her rückten sie dann mit der Sprache raus, dass das eine Challenge, also eine Herausforderung aus den Sozialen Netzwerken, sei. Man steht im Kreis verteilt und kassiert Ohrfeigen. Wenn man dann eine Ohrfeige verpasst bekommt und wegrennt, kommt das bei den anderen nicht so gut an. Daraus ist dann der Tumult entstanden.
Darüber kann man lächeln, aber mit Blick auf den Zwischenfall 2016 dürfte Ihnen das Lächeln auch schnell vergehen, oder? Ein zwölfjähriger Junge wurde von zwei Mitschülern verprügelt, lag im Koma. Was haben Sie aus dem Zwischenfall mitgenommen?
Wir sind alle irgendwie gestärkt daraus hervorgegangen. Aber nur, weil der Junge es überlebt hat, nichts von seinen schweren Verletzungen übrig geblieben ist und er vor drei Jahren hier erfolgreich seinen Abschluss gemacht hat. Als ich vor der Klasse stand und ihn sowie seine Kameraden verabschiedet habe, da brach es echt aus mir heraus. Das war ein Gefühl, das ich kaum beschreiben kann. Sein Leben hing am seidenen Faden. Natürlich habe ich daraus gelernt, noch einmal vorsichtiger im Schulalltag zu sein. Wenn mir auffällt, dass eine Aufsicht fehlt, dann spreche ich das sofort an. Ich musste damals bei der Bezirksregierung mein Aufsichtskonzept erklären. Ich bin vor allem aber aus der Sache herausgegangen mit dem Wissen, dass wir ein tolles Team haben. Hier hat niemand jemanden allein gelassen.
Die Gesamtschulen im Kreis Euskirchen
Erster Abitur-Jahrgang – diese Erfahrung hat die Gesamtschule Eifel mit ihren Standorten in Blankenheim und Nettersheim im vergangenen Jahr gemacht. Etwas mehr als 100 Schülerinnen und Schülern waren 2013 in Blankenheim gestartet. Der Standort in Nettersheim kam später hinzu. Seitdem wird dort die Oberstufe unterrichtet. Schulleiterin Eva Balduin würde den Schritt sofort wieder gehen, wieder eine Gesamtschule gründen, sagt aber auch: „Gut, dass man vorher nicht weiß, was auf einen zukommt. Sonst würde man das vielleicht nicht tun.“
Trotz aller Startschwierigkeiten ist die Schulleiterin stolz auf das Erreichte, zu dem auch der erste Abitur-Jahrgang im vergangenen Jahr gehörte. 35 Schülerinnen und Schüler erhielten ihr Zeugnis. Der Tag des ersten Abi-Scherzes der Schulgeschichte war ebenfalls Gesamtschule-Eifel-Historie. Am 1. April 2022 wurden Türgriffe mit Zahnpasta eingeschmiert, Treppenläufe sorgfältig mit Tapetenrollen ummantelt, Schultafeln gewissenhaft zugeklebt – und in der Aula stieg eine Party mit Bobbycar-Rennen für die Lehrer. „Wir machen hier gute Schule“, sagt sie: „Wir haben hier so viele tolle Kollegen, die die ,Haltung Gesamtschule’ haben.“
Gesamtschule Weilerswist wird bald modernisiert
Dazu gehöre auch, dass in der Theorie der Unterricht für drei Leistungsgruppen innerhalb der Klassen gestrickt sein müsse: für die Schwächeren, die vielleicht eher Hauptschulniveau besitzen, für Realschüler und für Gymnasiasten. Für Henning Schneider, den stellvertretenden Leiter der Gesamtschule Eifel, ist das nicht nur Theorie. „Es ist für uns ein Selbstverständnis, dass der Unterricht für die Kinder nach ihrem Leistungsvermögen gestaltet ist“, sagt er. An der Gesamtschule Weilerswist wurde vor mehr als 30 Jahren Pionierarbeit im Kreis Euskirchen geleistet. Damals nahm die Schule ihre Arbeit auf.
Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, hat die Schule mit ihrem Dalton-Konzept weiter ein Alleinstellungsmerkmal im Kreis. Und wird in den kommenden Jahren modernisiert. „Ich habe der Verwaltung gesagt, dass ich gerne noch den Spatenstich, das Richtfest oder die Eröffnung miterleben möchte. Am besten alle drei Dinge“, sagt Schulleiter Stephan Steinhoff. Im kommenden Jahr soll mit dem millionenschweren Neubau eines Schulgebäudes an der Martin-Luther-Straße begonnen werden.
Zülpich verzichtete auf Gesamtschule
Auch in Mechernich gibt es seit 2015 eine Gesamtschule, die sich großer Beliebtheit erfreut. Entstanden ist sie aus einer Sekundarschule. In Zülpich stand die Einführung einer Gesamtschule zur Debatte. Im 2015 votierte die Politik aber schließlich für das dreigliedrige Schulsystem mit Haupt- und Realschule sowie Gymnasium. Und die Anmeldezahlen in Zülpich sprechen seitdem für sich. (tom)
Die Serie
Sind Schulen im Kreis Euskirchen eine Problemzone oder ein Wohlfühlort? Welche Herausforderungen gilt es für sie derzeit zu meistern, und wie steht es um die Digitalisierung an den Schulen wirklich? Und was ist eigentlich ein Bündelungsgymnasium? Sind Hauptschulen nötig? Fragen, die die Redaktion in mehreren Teilen beantwortet und dabei einen größeren Blick übers Vokabelheft hinauswirft. (tom)