Schreck beim Anlanden: Während der Fahrt ins Trockendock in Rurberg löste sich das Stahlseil der Slipanlage und das 100-Tonnen-Fahrgastschiff trieb davon.
Stahlseil gerissenDie „Aachen“ trieb nach Havarie führerlos auf dem Rursee
Alles sieht nach Routine aus: Geschäftiges Treiben herrscht am Rande des Rursees, nahe dem Nationalparktor in Rurberg. Das Team von Franz-Josef Heuken weiß, was zu tun ist. Ein im Wortsinne „schwerer“ Job muss hier neben der Straße Seeufer erledigt werden. Das Fahrgastschiff „Aachen“ soll aufs Trockene. Der Riese wiegt satte 100 Tonnen. Doch die Aktion endet mit einer faustdicken Überraschung: Die „Aachen“ ist abgerutscht.
Die Saison der „Weißen Flotte“ ist seit dem Ende der Herbstferien am 26. Oktober vorbei. Das gibt Heuken und seinen Mitarbeitern die Chance, Aufgaben zu erledigen, für die in den Sommermonaten keine Zeit ist. Der 74-Jährige ist mit Ehefrau Waltraud Heuken Eigentümer der bei Touristen beliebten „Ausflugsdampfer“; sie führt die Geschäfte. Etwa ein halbes Jahr lang drehen die „Aachen“ und ihre Schwesterschiffe nach festen Fahrplänen ihre Runden: die „Stella Maris“ – das Flaggschiff der Flotte, rund 120 Tonnen schwer – auf dem Rursee zwischen Rurberg und Schwammenauel sowie die Elektroschiffe „St. Nikolaus“ und „Seensucht“ auf dem Obersee zwischen Rurberg und Einruhr.
Seit fast 50 Jahren ist die „Aachen“ auf dem Rursee im Dienst
Damit dies auch in der neuen Saison wieder so ist, die am 12. April 2025 beginnen soll, müssen die Schiffe hin und wieder genau unter die Lupe genommen werden. Diesmal ist es der exakt 37,45 Meter lange und 6,48 Meter breite Stahlkoloss, dem die nahe Kaiserstadt ihren Namen geliehen hat. Die 299 Pferdestärken von Dieselmotoren treiben die „Aachen“ an. 472 Passagiere finden auf dem großen Sonnendeck und den zwei Innendecks mit jeweils einem Bordrestaurant Platz. Seit 1975 sticht sie in See. Im kommenden Jahr steht für die „Aachen“ also das „Goldjubiläum“ bevor.
Angesichts dessen muss bei der alten Dame schon mal genauer hingeschaut werden, ob noch alles funktionstüchtig und sicher ist. Dafür will Schiffsprüfer Hans-Josef Braun von der „Schiffs-Untersuchungskommission“ (SUK) in Mainz eigens an den Rursee kommen. Das nennt sich Inspektion oder TÜV, wie man es bei Autos kennt. Alle fünf Jahre sei dieser Check fällig, erzählt Franz-Josef Heuken routiniert am oberen Ende der Slipanlage.
Diese Bootsrampe ist eine schräge Ebene aus Beton, auf der Schiffe zu Wasser gelassen oder wieder an Land gezogen werden. Heuken ist Herr über die Schaltknöpfe der Motorwinde. Diese im Einsatz schrill tönende Maschine rollt ein dickes, 30 Millimeter Durchmesser großes Stahlseil auf beim Rausziehen des Schiffs – oder ab, wenn's im Frühling erneut losgehen und wieder Wasser unter den Kiel kommen soll.
Der Rumpf des Schiffs ist schon gut über die Hälfte aus dem Wasser gezogen worden, der Schlitten mitten unter dem Schiff ist bereits auf Land angekommen. Nur noch wenige Meter , und die „Aachen“ steht komplett auf dem Trockenen. Der nächste Schritt wäre, sie mit Halteketten zu fixieren, damit das Schiff fest und „reglos“ stehen bleibt. Das ist ähnlich wie bei Keilen, die beim Parken unter die Räder eines Lastwagens geschoben werden.
Bevor das eigentliche Liften der „Aachen“ beginnen kann, wird der Schlitten oder Slipwagen vom Ufer aus unter der Wasserlinie in Position gebracht. „Der Rursee hat relativ wenig Wasser“, erklärt Heuken. Somit wird der Weg zum Schiffsrumpf ein Stück länger als sonst üblich. Danach steuert der Kapitän die „Aachen“ so präzise heran, bis sie auf dem Transportteil aufsetzt und festgezurrt werden kann. Es kann endlich losgehen.
Plötzlich knallt es, und das Stahlseil ist ab
„Das wird kaum 20 Minuten dauern“, schätzt der Reederei-Eigentümer im Gespräch. Zentimeter um Zentimeter rollt sich das Stahlseil auf der dicken Trommel auf. Und bald können auch die vielen Zaungäste, die sich auf dem Eiserbachdamm in Position gebracht haben, um das Spektakel zu bestaunen, mit eigenen Augen erkennen, dass sich die „Aachen“ langsam in Bewegung setzt.
Emsig wuseln die Mitarbeiter von Franz-Josef Heuken über Leitern vom Land aufs Schiff und wieder zurück, achten aufmerksam darauf, dass sich nichts verhakt, dass alles möglichst perfekt passt. Dann plötzlich – ein lauter Knall, alle schrecken auf: Das Schiff geht „vom Haken“, 100 Tonnen Gewicht setzen sich langsam, aber unaufhaltsam und führungslos in Bewegung. Die „Aachen“ rollt Richtung Rursee. Es spritzt nach allen Seiten, als die Wasserlinie erreicht wird. Sie trudelt für einen Moment manövrierunfähig weiter, dann stoppt sie.
Fast lähmendes Entsetzen bei allen Augenzeugen: Schiffseigner Heuken eilt ans Ufer, die unmittelbar Beteiligten scheinen sich ratlos die Haare zu raufen. Wie konnte dies passieren? Bela al Khbouré, ein Mitarbeiter der Rurseeschifffahrts-Reederei, greift zu dem abgerissenen Stahlseil, hält es fast wie eine Trophäe hoch: Es sieht ein bisschen aus wie eine ausgefranste Frisur. „Kann passieren“, entfährt es Franz-Josef Heuken lakonisch.
Glücklicherweise kommt kein Mensch zu Schaden
Für heute ist Schluss mit dem Bootsliften. Zunächst muss gecheckt werden, was da los war. Am nächsten Morgen hat sich der Schiffsreeder wieder „gefangen“. Heuken erzählt, wie es nach dem Knall weitergegangen ist. „Zunächst haben wir die ,Aachen' wieder zum nahen Bootsanleger Rurberg gefahren.“ Ob der Unterboden beschädigt sei, lasse sich erst nach einer erneuten Slip-Aktion an Land genau prüfen. Nach dem ersten Augenschein sei die Havarie fürs Schiff nochmals gut gegangen. „Wir haben Glück gehabt“, sagt Heuken. Auch, weil kein Mensch zu Schaden gekommen sei, etwa durch das umherfliegende Stahlseil.
Wer etwas von dem harten Schlag abbekommen hat, ist der Schlitten, auf den das Schiff gezogen worden ist. „Er hat sich verbogen“, stellt Heuken fest. Flugs hat er sich ans Telefon gehängt und den Schlosser Michael Breyer an den Rursee gebeten. Er ist Geschäftsführer der Metall- und Gerätebau Breyer GmbH im Rollesbroicher Gewerbegebiet in der Gemeinde Simmerath. „Mit Schneidbrenner, dickem Hammer und Muckis hat er wieder alles gerichtet“, freut sich Heuken.
Inzwischen weiß er auch, woran's gelegen hat. „Die Klemmen des Seils am Ende des Gegenzugs waren nicht festgezogen. Das habe ich leider nicht kontrolliert“, räumt der Miteigentümer der „Aachen“ ein: „Da ist das Seil durchgerauscht.“
Trotz seiner 74 Jahre ist Franz-Josef Heuken immer noch mit viel Leidenschaft dabei: „Ich mach' die Arbeit gerne.“ Die nächste Generation steht indes schon bereit, Verantwortung zu übernehmen: Sohn Philipp Heuken will in die Fußstapfen seiner Eltern treten. Nun konnte er vom Vater lernen, wie man mit brenzligen Situationen umgeht: Er hat das Abrauschen der „Aachen“ hautnah miterlebt...