Armut und Obdachlosigkeit sind ein drängendes Problem für eine wachsende Zahl von Menschen am Rand der Gesellschaft. In einer Gesprächsrunde der evangelischen Kirche Euskirchen kam unter anderem ein Betroffener zu Wort.
„Politiker müssten sich dem aussetzen“Fachleute debattieren in Euskirchen über Armut
Ausgewiesene Fachleute waren sie alle, die da am Dienstagabend im Stuhlkreis im Gemeindesaal der evangelischen Kirche Euskirchen saßen – als Seelsorger, Sozialarbeiter, Psychologe oder Staatssekretär. Der wahre Experte in Sachen Armut war jedoch Klaus Berg, ein Wohnungsloser aus Euskirchen, der mit seinen Innenansichten aus dem Leben eines Menschen am Rande der Gesellschaft wertvollen Input in die Runde gab.
Ansichten und Visionen zur Armutsbekämpfung
„Betrifft: Armut. Damit Leben sich lohnt“ war die Veranstaltung überschrieben, zu der die evangelische Kirchengemeinde im Rahmen ihrer Novembergespräche 2022 eingeladen hatte. Und die Zeiten für den thematischen Schwerpunkt der jährlichen Veranstaltung hätten kaum besser beziehungsweise kaum schlechter sein können.
Moderiert von Diakon Jens Schramm und Pfarrer Frank Thönes, sprachen die fünf Gäste über ihre Ansichten und Visionen in Sachen Armutsbekämpfung und berichteten aus ihrem jeweiligen Alltag, in dem ihnen Armut auf höchst unterschiedliche Weise begegnet. Psychologe Uwe Strang etwa gab Einblicke in seinen Therapiealltag: „Armut ist kein reiner Sachaspekt, sondern bewirkt etwas bei den betroffenen Menschen.“
Nicht jeder findet Arbeit
Das Klischee des undisziplinierten Bürgers, der seine Armut selbst verschuldet habe und sich wohlfühle in der sozialen Hängematte, sei ihm in 40 Jahren therapeutischer Tätigkeit nicht untergekommen. Strang: „Dass in unserem reichen Land jeder einfach Arbeit finden kann, entspricht nicht meiner Wahrnehmung.“
Worum es aus Sicht des Psychologen im Umgang mit Menschen gehe, die von Armut betroffen sind? „Um Stärkung der Selbstwirksamkeit, um alles, was die Ressourcen des Betroffenen in den Vordergrund rückt“, so Strang. Das Gefühl, etwas wert zu sein, bemesse sich nicht am materiellen Wohlstand.
Maßnahme in Meckenheim: Vertrag zwischen Stadt und Hauptschülern
Pfarrer Franz Meurer, der für seine engagierte und kreative soziale Brennpunktarbeit in seiner Kirchengemeinde in Köln-Vingst und Köln-Höhenberg bekannt ist, wusste die zahlreichen Zuhörer ebenso gut zu informieren wie zu unterhalten. Er berichtete von verschiedenen Projekten, mit denen Armut sehr effektiv begegnet werden könne.
Beispielsweise der „Meckenheimer Garantie für Ausbildung“: Die Stadt sucht über Kooperationspartner aus der Wirtschaft Lehrstellen. Hauptschüler gehen im Gegenzug den Vertrag ein, mindestens die Durchschnittsnote Befriedigend zu erlangen, sich bei Defiziten fördern zu lassen, nicht zu schwänzen und außerdem positives Sozialverhalten an den Tag zu legen. „Ermöglichungsgerechtigkeit“ wie diese sei praktizierte Armutsbekämpfung, die nachhaltig wirke.
„Wir können so viele Dinge tun und verhindern, wenn wir nur in unser Hirn investieren“, zeigte sich Franz Meurer überzeugt. „Als Christen müssen wir diese Gesellschaft mitgestalten.“ Die Kirche sei dabei nur ein Instrument: „Ich mache das jedenfalls alles für den Herrgott, nicht für die Kirche“, versicherte Franz Meurer.
Und wie sei es um die biblische Verpflichtung zur Unterstützung der Armen bestellt, wollte Pfarrer Thönes von seinem katholischen Kollegen wissen. „Eines ist ja wohl mal klar“, entgegnete Pfarrer Meurer: „Wer 50 Wohnungen besitzt und nicht drei zur Verfügung stellt, der hat auf jeden Fall an der Himmelspforte Probleme mit Petrus.“
Arbeitsloser kritisiert: Für Politiker ist Armut nur Theorie
Klaus Berg, der seit über vier Jahren nachts in einem Wohncontainer Unterschlupf findet, berichtete den Zuhörern und Talkgästen zunächst, wie ein typischer Tagesablauf bei ihm aussieht. „Dort, wo ich Hilfe annehme, fühle ich mich respektvoll behandelt“, betonte er. Dass man trotz eines erlernten Berufes in die Armut und schließlich in die Obdachlosigkeit rutschen kann, machte seine Geschichte deutlich. Nach einer finanziellen Bruchlandung und dem Verlust der Wohnung in einem kleinen Eifeler Dorf habe er sich aus Scham „aus dem Staub gemacht“ und soziale Kontakte abgebrochen.
Was er sich wünschen würde, wenn er in Richtung Politik schaue, wurde Klaus Berg gefragt. Lange überlegen musst er nicht: „Dass diejenigen, die politisch über die Zuwendungen für Arme entscheiden, sich den Bedingungen für eine Weile selber aussetzen.“ Für viele Politiker sei Armut ein theoretischer Zustand, von dem sie nicht wirklich wüssten, wie er sich anfühle.
Staatssekretär: Bildung und Arbeit wesentliche Faktoren
Zumindest in diesem Punkt widersprach Matthias Heidmeier, Staatssekretär im NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales: „Ich kenne auch Armut und existenzielle Ängste als Kind.“ Der CDU-Politiker räumte ein, dass Deutschland mit seiner Sozialversorgung im Ländervergleich sicherlich gut dastehe, er aber auch sehe, dass ein würdevolles Leben mit den staatlichen Zuwendungen eher schwierig sei.
Nach Heidmeiers Ansicht ist ein wesentlicher Faktor zur Armutsbekämpfung, „frühzeitig Wege in Bildung und Arbeit aufzuzeigen“. Angesichts des großen Fachkräftemangels brauche man wirklich jeden auf dem Arbeitsmarkt, so dass ganz neue Strategien entwickelt werden müssten, junge Menschen in Ausbildung zu bringen.
Privater Wohnungsmarkt vergisst die Schwächsten der Schwachne
Wilfried Schmitz, Bereichsleiter „Beratung und Betreuung“ beim Caritasverband Euskirchen, erzählte, welche Probleme die Klientinnen und Klienten in die Beratung mitbrächten. „Die Abwendung von Räumung ist ein häufiges Thema, viele haben nicht das Rückgrat sich gegen Vermieter, Inkasso-Firmen und Behörden zur Wehr zu setzen“, berichtete er.
Und wo sieht der Sozialarbeiter, der seit nunmehr 23 Jahren im Job ist, politisch die größte Dringlichkeit zum Handeln? „Im Rückzug der Städte und Gemeinden aus der Wohnungswirtschaft“, meinte Schmitz. Der Markt sei so hart umkämpft, erst recht nach der Flut, dass sich vor allem finanziell schwächere Wohnungssuchende allen Spielregeln beugen müssten.
Wenn man den Wohnungsmarkt der Privatwirtschaft überlasse, die nur profitorientiert sei, gerieten dabei „die Schwächsten der Schwachen“ in Vergessenheit. „Und bevor Menschen keinen Wohnraum haben, müssen wir über all die anderen Dinge gar nicht erst reden“, ergänzte Wilfried Schmitz und erntete dafür zustimmenden Applaus seitens der zahlreichen Gäste im Gemeindesaal.