Psychosoziale Hilfe in EuskirchenViele Bürger leiden nach der Flut unter Traumata
Kreis Euskirchen – Manchmal helfen schon Kleinigkeiten. „Einfach zusammen ein Eis essen gehen. Das haben wir einem älteren Paar geraten, das durch die Flut schwer traumatisiert war“, sagt Jens Braun: „Als wir am nächsten Tag wiedergekommen sind, ging es ihnen direkt viel besser – obwohl nicht viel passiert ist.“ Jens Braun und seine Frau Elke gehören zum Kriseninterventionsteam der Malteser Norderstedt. Sie kümmern sich mit vier anderen Helfern um die psychosoziale Notversorgung der flutgeschädigten Bevölkerung im Kreis Euskirchen.
Nach der Katastrophe sind nicht nur die materiellen Schäden immens. Menschen, die das Hochwasser getroffen hat, kämpfen mit Existenzängsten. Sie müssen den Verlust geliebter Familienmitglieder verkraften oder Nahtoderfahrungen verarbeiten. Für sie bietet der Kreis eine psychosoziale Notversorgung an. Weil es der Verwaltung an Personal und Erfahrung mit solchen Krisen fehlt, greift er auf die Expertise unter anderem aus Norddeutschland zurück.
Präventive Fachkräfte-Reserve eingeplant
Wie viele Menschen an psychischen Problemen wegen der Flut leiden und wie groß der Bedarf an Hilfe ist – das prüft aktuell das Kreisgesundheitsamt. Dessen Mitarbeiter Jörg Zerche und Sonja Zingsheim koordinieren und unterstützen die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer aus dem Norden. „Wir bieten ihnen Schulungen an und beraten sie fachlich. Auch eine präventive Fachkräfte-Reserve haben wir aufgebaut“, erläutert Zerche. So könnten im Notfall mehr Kräfte zugeteilt werden: „Manchmal hilft eine Notversorgung nicht mehr. Dann ist psychiatrische Kompetenz gefragt.“
Die psychosoziale Notfallversorgung ist vor allem in der Akutphase psychischer Probleme wichtig. In der Stabilisierungsphase braucht es andere Konzepte. Und auch nach dieser Phase gibt es Menschen, die eine weitere therapeutische Behandlung benötigen. „Die Bewältigung psychischer Krisen ist auf der einen Seite ein Marathon, auf der anderen Seite ein Sprint“, sagt Zerche. Wichtig sei, dass der Kreis schnell und präventiv handele.
Die Anlaufstellen und Hilfsangebote finden Sie hier.
Auch für Frank Waldschmidt ist schnelles Handeln alternativlos. Der Leiter der psychosozialen Notversorgung der Malteser weiß: Die Akuthilfe sei zwar nur vier bis sechs Wochen notwendig. Viele würden aber sechs Monate Beratung brauchen. „Wenn die Leute nach dem Aufräumen zur Ruhe kommen, kommen die Erinnerungen hoch“, erläutert Waldschmidt. In Dresden, wo es Anfang des Jahrtausends auch ein verheerendes Hochwasser gab, sei das ähnlich gewesen: „In der dunklen Jahreszeit kamen die Traumata.“ Und bis die aufgearbeitet seien, könne es bei manchen dauern: „Die Rückkehr in die Sicherheit kann auch bis zu zwei Jahre dauern. Die Phasen sind nicht bei allen gleich.“
Zweite Septemberhälfte den Kindern widmen
Gründe für Traumata gibt es laut Waldschmidt viele. „Eine Naturkatastrophe erschüttert die Grundannahmen vieler Menschen“, sagt er. Sicherheit und Kontrolle, die alltäglichen Rituale, die den Menschen Halt geben – alles sei weg: „Wir erleben auch etwas ganz Bizarres: Leute, die gar nicht betroffen sind, fühlen sich für ihr Überleben schuldig.“ Diese würden oft äußerst aggressiv auf Menschen reagieren, die keinen Anteil nehmen. „Oder sie helfen bis zur Erschöpfung, um Wiedergutmachung zu leisten“, erläutert Waldschmidt.
Trostspender
Auch für Kinder sind die Helfer der psychosozialen Notversorgung im Einsatz. Die Arbeit mit Kindern erfordert allerdings eine ganz andere Herangehensweise als die mit Erwachsenen.
Teddybären sollen Kindern dabei helfen, Traumata zu überwinden und negative Erlebnisse durch eine positive Erfahrung zu überlagern. Die Bären werden von den Helfern an Kinder im Katastrophengebiet verteilt.
Gespendet hat die 400 Bären das Martinskomitee Harbeck-Beck, das für die Deutsche Teddy-Stiftung unterwegs ist. Die Stiftung ist der deutsche Ableger der Hilfsorganisation „Good bears of the world“, die ihren Hauptsitz in Toledo, Ohio, in den USA hat. Gegründet wurde die Stiftung 1998 in Esens.
Mehr als nur Spielzeuge sind Stofftiere für kleine Kinder. Laut Jörg Zerche und Frank Waldschmidt dienen die Teddybären Kindern als Ankerpunkt – sie spenden Trost, geben Sicherheit und Stabilität in einer ungewissen Situation. (maf)
Eine bestimmte Altersgruppe, die besonders stark von psychischen Problemen betroffen ist, gibt es nicht. Zuerst traf es die Alten. Jetzt trifft es die Jungen. In der zweiten Septemberhälfte will sich die psychosoziale Notversorgung des Kreises deshalb den Kindern widmen. „Auch den Kindern fehlt Stabilität. Schulen und Kindergärten sind kaputt, ihre Eltern oft selbst traumatisiert“, sagt Waldschmidt: „Distanzunterricht ist da ein besonderes Problem. Was die Kinder jetzt brauchen, das ist Nähe.“
Bis zu 60 Gespräche vor Ort
Und die schafft man am besten mit persönlichen Gesprächen, ist sich Elke Braun sicher. „Wir gehen gezielt auf die Menschen zu und sprechen sie an“, sagt Braun: „Und oft sind sie dann froh, dass sie mal mit jemand anderem als dem Nachbarn über ihre Sorgen reden können.“ In der vergangenen Woche waren die Nothelfer in den zerstörten Euskirchener Ortsteilen unterwegs, etwa in Schweinheim, Kreuzweingarten und Rheder. Am Freitag endete der Einsatz der Malteser-Teams aus Norderstedt und Ravensburg. Nun zieht ein Team aus Vechta durch den Kreis – zunächst durch Bad Münstereifel, Iversheim und Arloff-Kirspenich, dann durch Nettersheim. Die Menschen da abholen, wo sie sind.
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Das ist Zerches Grundsatz für die Notversorgung. Das stellt die Helfer aber auch vor Probleme. Zurzeit führen sie täglich bis zu 60 Gespräche vor Ort – zehn pro Helfer. Und es sollen mehr werden. „Wir stocken deshalb die Einsatzkräfte von 6 auf 25 auf“, sagt Zerche. Je mehr der Kreis mache, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass alle Bürger mögliche Traumata unbeschadet überstehen.
Die Brauns sind sicher: Die Hilfe von außerhalb könnte effizienter eingesetzt werden, wenn das Land NRW für bessere Bedingungen sorgt. „Es braucht dringend ein Landeskonzept für die psychosoziale Notversorgung“, sagt Jens Braun. In Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein gibt es solche Konzepte. Und in Berlin ist die Notversorgung sogar den Hilfsdiensten gleichgestellt.