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Dr. Herbert Kaefer„Für Jesus gibt es keine Ausländer“

Lesezeit 8 Minuten

„Ich bin immer mehr der Überzeugung, dass es Jesus zuerst darum ging, für die Armen einzutreten.“

GemündHerr Dr. Kaefer, was macht in Ihren Augen einen guten Priester aus?

Er muss für die Menschen da sein. Er muss das leben und sagen, was Jesus gewollt hat. Jesus verkündet Gottes Liebe zu allen, er zieht keine Grenzen. Jesus hat Grenzen überschritten. Er sprengte im Tempel die Grenzen zwischen dem Vorhof für die Heiden und dem jüdischen Bezirk. Das war ein Skandal. Für Jesus gibt es keine Ausländer. Es darf sie auch für Christen nicht geben.

Das leitet über zu Ihrem Engagement für Obdachlose, Flüchtlinge und Asylbewerber in Aachen-Nord, das Ihnen einigen Ärger einbrachte. In dieser Zeit wurden Sie als Linker abgetan und man warf Ihnen in Briefen an den Bischof sogar politischen Missbrauch der Kanzel vor.

Da war unter anderem der Fall des Afrikaners Frederik Zeba, der sich 1987 aus dem Fenster des Ausländeramtes stürzte. In der Zeitung stand, der Pressesprecher der Stadt habe angegeben, Frederik beherrsche keine europäische Sprache, werde in Belgien steckbrieflich gesucht und sei total betrunken gewesen. Ich besuchte ihn tags darauf im Klinikum. Nichts stimmte. Er sprach besser Englisch und Französisch als ich, und die Ärzte stellten einen Alkoholwert von 0,0 Promille fest. Nach Beratung mit einem Rechtsanwalt erklärte ich öffentlich: Die Stadt hat gelogen. Das schlug natürlich ein wie eine Bombe. Der Oberstadtdirektor stellte Strafanzeige wegen Beamtenbeleidigung und wissentlich falscher Anschuldigung. Ich erhielt Morddrohungen, darunter den Brief einer rechtsradikalen Partei. Auf der Rückseite war mein Foto, mit Ringen versehen wie bei einer Zielscheibe. „Wir werden dich treffen“, stand dabei. Das war eine heftige Zeit. Das Verfahren gegen mich wurde später eingestellt. Die Ermittlungen ergaben, dass meine Kritik zutraf.

Trotz der Auseinandersetzungen mit der Stadt erhielten Sie 1991 den Aachener Friedenspreis.

Es gab Politiker, die mich unterstützten. Als 1978 die ersten Asylbewerber nach Aachen kamen, wurden sie in einer Sammelunterkunft untergebracht. Nach dem Fenstersturz konnten der Flüchtlingsrat und ich ein Konzept vorstellen, das viele Verbesserungen für Flüchtlinge vorsah, unter anderem eine dezentrale Unterbringung und Telefone für den Notfall. Unser Konzept wurde vom Flüchtlingsrat NRW als vorbildlich im Land deklariert, und der Stadtrat gab die Erklärung ab: „Flüchtlinge willkommen.“ Darin verpflichtet die Stadt sich, im Rahmen der Gesetze alles zu tun, um den Flüchtlingen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Wir konnten erreichen, dass Flüchtlinge, die länger geduldet waren, arbeiten oder hier eine Ausbildung absolvieren konnten. Vor 22 Jahren konnten wir das Café „Zuflucht“ gründen. Es ist heute die größte Beratungsstelle für Flüchtlinge in NRW.

Der Aachener Friedenspreis wird übrigens nicht von der Stadt, sondern von einem Verein verliehen, in dem auch die Stadt Mitglied ist. Ich erhielt ihn auch für die Arbeit mit Kriegsdienstverweigerern. In Aachen-Haaren, wo ich Pfarrer war, gründete ich eine Beratungsstelle für Kriegsdienstverweigerer. Es wurde die größte katholische Beratungsstelle in Deutschland.

Nach seiner Pensionierung im Jahr 2003 fragte sich Dr. Herbert Kaefer: „Wo stehe ich und wo will ich hin?“ Um dies zu erfahren, begab er sich auf eine „Lebensreise“: „Ich wollte an geeigneten Orten über die wichtigsten Fragen meines Lebens und Glaubens nachdenken.“

An sechs Stationen wollte er jeweils etwa vier Wochen bleiben und dazwischen vier Wochen zu Hause die Eindrücke verarbeiten und die neue Station vorbereiten. Die „innere Reise“ war für ihn wichtig. Für ein „Sabbatjahr“ nahm er keine Termine mehr an.

Die erste Station führte ihn nach Auschwitz. Seine Gedanken kreisten um Fragen wie: „Was ist das für ein Gott, der Auschwitz zulässt?“

In der Wüste Sinai bestieg er den Berg Horeb, wo Gott Moses die Zehn Gebote übergeben haben soll, und wanderte zehn Tage mit einem Beduinen durch die Öde. Er wollte erfahren: „Wie hat Glauben angefangen? „ Bei der Wüstenwanderung stiegen verdrängte Konflikte und Enttäuschungen aus der Vergangenheit hoch.“

Station drei war der See Genezareth. Fast vier Wochen saß er an dessen Ufer, las in den Evangelien und Bücher über Jesus und seine Zeit. 40 Jahre zuvor hatte er sich als Diakon schon einmal dort aufgehalten. Danach schloss er sich einer Gruppe an und fuhr mit zu den Jordanquellen und nach Jerusalem.

Rom war die vierte Station. Er dachte darüber nach, was aus Jesu Botschaft gemacht worden ist.

Die fünfte Reise führte ihn nach Brasilien. Dort erlebte er die Kirche als Netzwerk von Menschen, die auf der Seite der Armen stehen und ihnen helfen.

Seine letzte Station führte ihn nach Aachen. Hier lebte er in einer kleinen Ordensgemeinschaft am Rand der Stadt und dachte über seine Zeit im Bistum und in der Stadt Aachen nach. Er unterhielt sich mit Menschen, die ihm in seiner Dienstzeit wichtig waren. „Mit Exerzitien wollte ich die Reise abschließen. Ich habe zwar Exerzitien gehalten, aber ich kam nicht zum Abschluss“, erinnert sich Pastor Kaefer. Aber seine „Lebensreise“ führte schließlich dazu, das er sich für die Misereor-Projekte engagierte. (bk)

Als Sie 2003 mit 65 Jahren in den Ruhestand gingen, intensivierten Sie Ihr 1983 begonnenes Engagement bei Misereor, wofür Sie 2009 die Silberne Ehrennadel erhielten.

Ich interessierte mich schon lange für die Thematik „Gerechtigkeit und Armut in der Welt“. Über das Goethe-Institut kam ich nach Salvador de Bahia, Brasilien. Aber ich wollte dort nicht nur das Goethe-Institut besuchen, sondern ging auch zu Misereor-Projekten. Mein heutiger Freund Frederik Zeba lud mich ein, mit ihm seine Mutter in Afrika zu besuchen. Aber ich wollte nicht nur einen Familienbesuch, sondern fuhr auch zu einem Krankenhausprojekt. Das waren meine ersten Reisen in Länder des Südens. Nach meiner Pensionierung besuchte ich jedes Jahr Misereor-Projekte in aller Welt. Ich traf Kindersoldaten, Straßenkinder, beschnittene Mädchen und Kinderarbeiter. Ich war in Indien und Bangladesch, in Ghana und anderen Ländern Westafrikas, in Ostafrika und auf Madagaskar oder im vergangenen Jahr in Brasilien. In Brasilien unterstütze ich seit vielen Jahren ein Projekt. Dort hat man sogar einen Platz nach mir benannt. In Deutschland gehe ich dann in Schulen und Gemeinden und berichte über die Projekte. Allein im Februar und März vergangenen Jahres waren es 28 Veranstaltungen.

Woher kommt Ihr Engagement für Misereor?

Vom Glauben. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass ich dabei mehr beschenkt werde als ich selbst geben kann. In den Südländern bin ich immer wieder erschlagen davon, mit wie viel Enthusiasmus sich Menschen für Menschen einsetzen. Ich sehe entsetzliche Dinge. Die Reisen sind nicht so feudal wie auf dem Traumschiff. Aber es ist Wahnsinn, welchen Einsatz und welche Herzlichkeit man erlebt. Das motiviert mich.

Sie sehen also viel Elend. Wie hält man das aus?

Das belastet wirklich. Am Schlimmsten ist es, wenn Kinder kommen und betteln. Ich weiß, dass ich ihnen nichts geben darf. Sie gehen nämlich nicht in die Schule, wenn sie mit Betteln mehr verdienen als ihre Väter. Manche werden verkrüppelt, um effektiver betteln zu können und müssen das Geld an Hintermänner abgeben. Ich würde nur dazu beitragen, dass das System fortgeführt wird. Aber es ist scheußlich, wenn so ein Kind vor dir steht.

Papst Benedikt war ein Intellektueller, Franziskus ist der Helfer der Armen. Sind Sie eine Mischung daraus?

Ob ich intellektuell bin, weiß ich nicht (lacht). Ich denke, Sie vermuten schon, wem ich näher stehe. Natürlich Papst Franziskus mit seiner Wertschätzung der Armen, seinem Besuch bei Flüchtlingen, seinem einfachen Lebensstil.

Wie geht es weiter in unserer Region mit den großen Gemeinschaften von Gemeinden?

Dieses flächendeckende System, das immer weiter gestreckt wird, kann es nicht sein. In der Eifel und in der Stadt könnte man kirchliche Zentren mit Gottesdiensten, mit sozialen und mit Bildungseinrichtungen schaffen. Auch früher hatte nicht jeder größere Ort einen Pfarrer, aber Steinfeld zum Beispiel war ein Zentrum. Man wird wohl nicht mehr in Golbach und Sötenich jeden Sonntag eine Messe haben. Aber man kann und sollte örtliche Gemeinden stärken, in denen Verantwortliche aus der Gemeinde sonntags Wort-Gottes-Feiern halten, werktags zum Beispiel die Totenwache. Vieles geht auch ohne Priester. Ich arbeitete in Aachen in drei Pfarreien: zwei Kirchenvorstände habe ich zwei Jahre lang nicht besucht, weil ich wusste: „Die können das allein.“

Ein kleines Fazit nach 50 Jahren Priesterdaseins?

Die Zusammenarbeit in einem Pastoralteam, in den Gemeinden und mit Kriegsdienstverweigerern und Flüchtlingen brachte Konflikte, Beschwerden, Verdächtigungen. Ich hatte Ärger mit Mitchristen und der Hierarchie.

Ich war auch selbst unsicher und musste meinen Weg suchen. Aber die katholische Kirche ist eine Kirche der Sünder, nicht der Vollkommenen. Zum Glück! Ich habe zugleich sehr viel Vertrauen, Unterstützung und Ermutigung erfahren. Wir haben in den Gemeinden gemeinsam überlegt, wie wir Jesu Botschaft vor Ort leben können. Wir haben gemeinsam Flüchtlinge aufgenommen und manche haben mit mir gegen die Militarisierung unserer Gesellschaft gekämpft – mit Verbündeten jenseits unserer Kirchtürme.

Inzwischen bin ich auch in der Eifel, meiner Heimat, wieder Menschen begegnet, die mir Vertrauen schenken und mit denen ich zusammenarbeite. Das alles hat mich geprägt. Für all das bin ich vielen, vielen Menschen dankbar. Und ich möchte dem danken, dem wir vielleicht begegnen in den Armen, in Kindern, in Fremden, in ausgenutzten und in glücklichen Menschen und den wir in der wunderbaren Schöpfung ahnen.