Auch drei Jahre nach der Flut stehen an der Ahr noch etliche Ruinen. Die Rundschau sprach mit einem Tischler aus Dernau über Hemmnisse, Geld und Gefühle.
Drei Jahre nach der Flut an der Ahr„Abgerissen wird erst, wenn ich den roten Punkt habe“
Jedes Mal, wenn Pierre Sebastian am Haus seiner Eltern in Marienthal (Gemeinde Dernau) vorbeifährt, muss er daran denken, wie Vater, Mutter und die Schwester im dritten Stock unter dem Gebälk kauerten und stundenlang bangten, ob die Flut noch höher steigen würde. Fünf Meter über der Straße rauschte die ansonsten beschauliche Ahr in der Nacht auf den 15. Juli 2021 durch das Haus, spülte sämtliche Einrichtung und Erinnerungsstücke weg, donnerte einen zischenden Gastank von irgendwoher durch die Dachpfannen und nahm in ihrem Lauf bis zum Rhein 135 Menschen das Leben. Drei starben im Haus hinter dem von Pierre Sebastians Eltern: Tante, Onkel und ein Vetter.
Der Dernauer hat also ein großes Interesse daran, dass dieses Haus verschwindet und die Bilder, die in seinem Kopf damit verbunden sind. Dennoch wollen er und seine Familie das Grundstück und den angestammten Wohnplatz nicht aufgeben. Vor einem Jahr hat er einen Architekten in Bonn gefunden („Hier im Tal war ja jeder ausgelastet“), der inzwischen Pläne gemacht hat. „Ich habe einen Termin bei der Kreisverwaltung in Ahrweiler gemacht, um zu erkunden, ob ich so neu bauen darf, und vor allem, ob an dieser Stelle wirklich neu gebaut werden darf. Abgerissen wird erst, wenn ich den roten Punkt habe, also die Baugenehmigung. Ich brauche die Sicherheit.“
Gelbe und blaue Bereiche sind von der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), wie in Rheinland-Pfalz die Ebene der Bezirksregierung heißt, festgelegt worden. In gelben Bereichen darf nicht aufgebaut werden. Für Sebastian gilt Blau. Was „Ersatzbau unter bestimmten Bedingungen möglich“ bedeutet, muss er aber noch erkunden. Bodenproben sind bereits genommen. Unrat muss weg: „Hier liegen jetzt irgendwelche Schindeln, und ich weiß nicht woher. Auch ein Öltank - von dem weiß ich inzwischen, wem er ist - muss weg, und jemand hat einen Bagger voller Flutholz abgeladen.“ Die Entsorgung wird Sebastian aus eigener Tasche zahlen müssen.
An der Ahr sind 9000 Wohnhäuser bei der Flut zerstört oder stark beschädigt worden
Wer das flutvermatschte Haus am Ortsausgang Richtung Dernau sieht, versteht sofort, warum es abgerissen werden muss. Vor der Flut war es gerade kernsaniert und hatte laut Gutachten sowie einer Zweitexpertise einen Wert von 1,2 Millionen Euro. „Da war alles neu, die Elektrik, die Wasserleitungen, der Außenputz ...“, zählt Sebastian auf. Doch von der Arbeitsleistung, die der versierte Tischler 2020 für Eltern und Schwester in das Haus vom Baujahr 1948 gesteckt hatte, ließ die Ahr nichts übrig.
9000 Wohnhäuser an der Ahr sind bei der Flut zerstört oder stark beschädigt worden, in Dernau 580 von 640. Pierre Sebastian gehört zu den wenigen Glücklichen, die „nur ein bisschen Wasser im Keller“ hatten, weil er und seine Frau in diesem Winzerdorf in der Bergstraße hoch genug ihr Zuhause haben. Und so erzählt er eine von den vielen Geschichten, wie Menschen im zerstörten Ahrtal irgendwie über die Runden kommen, und warum die zerstörten Häuser warten müssen.
„Ich hatte damals schon eine Fotovoltaik-Anlage auf dem Dach, der Nachbar einen Gasherd. Also wurde bei ihm gekocht, bei mir der Kühlschrank genutzt und die Kaffeemaschine betrieben. Meine Eltern und meine Schwester zogen bei uns ein.“ So war der Zusammenbruch der öffentlichen Infrastruktur mit wochenlang fehlendem Strom und Monaten ohne Trinkwasser aus der Leitung leichter zu ertragen. Ablenkung bot die Dauerbeschäftigung bei der Feuerwehr und die Arbeit für die geflutetete Schreinerei, in der Sebastian schon die Lehre absolviert hatte. „Die Tage hatten 15 oder 16 Arbeitsstunden.“
Nach einer Weile sind die Eltern vorübergehend in eine Mietwohnung gezogen, bis das Haus der Oma saniert war. Die alte Dame starb jedoch mit 88 Jahren während der Kurzzeitpflege und sah die Wohnung nach der Zerstörung nicht wieder. Inzwischen ist eine Tochter geboren und verlangt Aufmerksamkeit.
In Bad Neuenahr-Ahrweiler starben 2021 bei der Flut 77 Menschen
So fehlte der Druck, sich um die Ruine in Marienthal zu kümmern. „Wir haben also wirklich Gras drüber wachsen lassen“, sagt Sebastian und schaut sich die langen Halme an. Die Finanzen waren ohnehin klar: „Das Grundstück war, und das hatten wir vor der Flut schon schriftlich, ‚nicht versicherungsfähig‘. Also haben wir Anspruch auf eine 80-Prozent Finanzierung im Wiederaufbau über die ISB, die Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz.“ Beim Antrag ließ er sich beraten. Eigenleistung lässt sich aber schlecht abrechnen, und so muss er Handwerker einplanen und „ein Päckelchen von der Bank“, den Eigenanteil der Eltern.
Der Besuch an der Ruine, deren Bruchsteinkeller wegen des Treibstoffs aus dem Flutwasser seinen Halt verlor („Da fehlt an einigen Stellen der Mörtel, so dass man durchgucken kann“), weckt für Pierre Sebastian Kindheitserinnerungen: „Dort oben hinter der Tür mit der Satellitenschüssel war mein Kinderzimmer, und dort an dem Traktoranhänger bin ich gefilmt worden, als ich als Kind mit vergleichsweise riesigen Handschuhen meinem Vater geholfen habe, der Mechaniker war. Hier hat mein Opa schon als Schreinermeister gearbeitet.“
Am 9. Juli 2023 hatte er das erste Gespräch mit dem Architekten, nun, ein Jahr später hat er Pläne für einen Neubau mit zwei Geschossen und einfacher Attika („Damit eine Fotovoltaikanlage Platz hat“) in der Hand. Der Planer hat gestrichelte Linien durch das Gebäude eingezeichnet: HQ100, das nur alle 100 Jahre eintretende Hochwasserereignis, wie es das im Jahr 2016 gab, und „HQ extrem“. Solch ein starkes Hochwasser würde bis zum Fußboden im ungewöhnlich hoch platzierten Erdgeschoss reichen. Das entspricht der Oberkante der Garageneinfahrt neben der Ruine. Und das ist noch deutlich unter dem Wasserstand vom 14. Juli 2021.
„Wenn ich davon ausgehen würde, dass es nochmals solch eine Katastrophe geben könnte, würde ich nicht aufbauen“, sagt Sebastian. Er hält es nicht für möglich, dass nochmals Treibgut an der Felspartie „Bunte Kuh“ bei Walporzheim das enge Tal der Ahr komplett verstopft, so dass sein Wohnort im Rückstau absäuft und beim Brechen der Barriere die Kreisstadt auf mehr als 200 Metern Breite von einer riesigen Welle geflutet wird. Allein in Bad Neuenahr-Ahrweiler starben 2021 bei der Flut 77 Menschen. Sebastian weiß, dass sein Grundstück einem Trichter gleicht, der bei einem Hochwasser volllaufen wird. Anschütten darf er nicht, um andere nicht zu gefährden.
Der junge Mann denkt an seinen 63 Jahre alten Vater, der als Hobbywinzer aus Leidenschaft der örtlichen Winzervereinigung „Dagernova“ weiter Trauben aus den Weinbergen liefern will, die ihm nach der Flut übrigblieben. Vor allem die Tallagen sind ruiniert. „Er hat wieder einen Traktor und einen Anhänger. Ihm geht es nicht um den Ertrag, sondern um die Arbeit im Weinberg, bei der er abschalten kann“, erklärt der Sohn.
Erlebnisse müssen auch drei Jahre später noch verarbeitet werden
Die Erlebnisse müssen auch drei Jahre nach der Flut noch verarbeitet werden. Pierre Sebastian hat Hilfe bei der Diakonie gefunden, von einigen Kameraden weiß er, dass sie welche nötig hätten. „Immer wenn es stärker regnet, bekommen sie ganz merkwürdige Augen.“ Erinnerungen verschwinden nicht. Sie werden nur blasser. Nie wieder wird Pierre Sebastian ohne Not durch den Mittelgang der Dernauer Pfarrkirche gehen wollen. „Dort lagen unsere Toten nach der Flut in schwarzen Säcken. 12 oder 13 von ihnen habe ich gekannt.“
Halt hat er in der Feuerwehr. Von den damals 38 Kameraden sind 34 von der Flut betroffen. Viele Helfer kamen in den Ort, Feuerwehrleute aus Dieburg (Hessen) schufteten 18 Wochen in Dernau, und am Ende hatte der Weinort als erster der betroffenen Gemeinden an der Ahr wieder ein funktionierendes Gerätehaus.
Fehlt also bloß das neue Haus für die Eltern am angestammten Platz in Marienthal. „Mir graut vor dem Tag, an dem die Ruine abgerissen wird. Das wird definitiv noch mal ein schwarzer Tag. Da wird die ein oder andere Träne kullern.“ Aber: „Wenn mich meine Tochter mit 18 Jahren nach meinen Kinderbildern fragen wird und ich nichts vorzuzeigen habe, weil sie vermutlich bis in die Niederlande geschwommen sind, schmerzt mich das mehr als das kaputte Haus.“ In den Neubau wird auf jeden Fall das das Jesuskreuz mit einziehen, das in der Flutnacht auf dem Speicher hing. Sebastian ist überzeugt: „Der hat geholfen.“