Für Swisttal, Rheinbach und Euskirchen entsteht eine Selbsthilfegruppe für Übergewichtige. Die Gründerin hat seit ihrer Kindheit am eigenen Körper fast alle Nachteile von zu viel und zu wenig Essen erlebt.
Wenn das Essen ewig locktAdipositas-Selbsthilfegruppe für Swisttal und Rheinbach in Gründung
Christina Roggendorf hadert mit ihren 130 Kilogramm. 150 waren es schonmal, aber - nach intensivem Sport während der Corona-Pandemie - auch bloß 80. Wegen Übergewichts (Adipositas) und Fettleibigkeit (Lipödem) ist sie in Behandlung, auf einen Platz für eine Therapie muss sie als Kassenpatientin aber 15 Monate warten. Mit ihren 37 Jahren hat die Erzieherin, die inzwischen in Euskirchen lebt und in Swisttal arbeitet, auf der Waage schon so viele Auf und Abs erlebt, so viele Diäten erprobt, dass sie genau weiß: Ohne psychologische Hilfe wird sie das Problem nicht nachhaltig los.
Ein Magenband kommt für sie nicht in Frage. In einer Gruppe mit Übergewichtigen sei sie gewesen, sechs der Teilnehmer mit solch einem Band, das den Magen verkleinert. „Die saßen dort mit Döner und Pizzabrötchen, machten noch Witze darüber, dabei haben sie diese lebensgefährliche Operation bezahlt bekommen. Wozu?!“
Da sie sich von vielen Menschen unverstanden fühlt, Adipositas aber eine Volkskrankheit ist, will sie nun für Swisttal, Rheinbach und Euskirchen eine Selbsthilfegruppe gründen. Nach einem Aufruf in sozialen Netzwerken hat sie auch bereits Kontakt zu zehn Interessierten sowie die Unterstützung des Wohlfahrtsverbandes „Der Paritätische“.
Wie das Leben spielt
Roggendorf ist in Koblenz geboren, zog aber schon als Einjährige mit den Eltern in den Rhein-Sieg-Kreis. Ihr Unbehagen über ihren Körper entstand in der Wachstumsphase: Sie wuchs schnell und hoch, so sei sie bereits in der Mittelstufe 1,82 Meter groß gewesen und habe sich fett und unattraktiv gefühlt. Das war damals nur Einbildung, hatte aber weitreichende Folgen. Mit zwölf Jahren und 70 Kilogramm war sie der Meinung, eine Diät machen zu müssen. „Die hat aber logischerweise nichts gebracht. Ich war ja normalgewichtig.“
Sie ging damals auf eine Mädchenschule, das Erzbischöfliche St. Joseph-Gymnasium Rheinbach. Zunächst wohnte die Familie in Meckenheim, zog dann aber in den Stadtteil Lüftelberg. Roggendorf suchte Anschluss, ging zum dortigen Jugendtreff und hatte ein prägendes Erlebnis: Die Gruppe hatte sich Pizza geholt, da sagte jemand zu ihr: „Du fette Kuh, solltest nicht weiter essen.“ Ihr Gedanke damals dazu: „Also, dann erbrech' ich das, es muss ja wieder weg.“ So habe sich eine „leicht bulimische Phase“ angeschlossen, „Gott sei Dank nie so komplett. Ich dachte ja nur von mir, ich sei fett“.
Die Macht der Gefühle
Die Unzufriedenheit paarte sich mit Einsamkeit, und die Essstörung schlug ins andere Extrem um: „Ich habe Essen in meinem Zimmer gehortet und weggefuttert, wenn die Eltern arbeiten waren. Dann habe ich mich dafür geschämt und alles erbrochen.“ Das hat sie mit 13 und 14 Jahren gemacht. „Als der Körper sich formte, die Oberweite wuchs, ist das wieder normal geworden.“ Vorerst.
Als Roggendorf Abitur machte, wog sie 80 Kilogramm, während der Studienzeit wurden es 90 bis 100. „Das war was mehr, konnte ich aber relativ gut halten. Ich habe ganz viel auf Lehramt studiert: Deutsch, Philosophie, Geschichte, Pädagogik. Ich lerne gerne.“ Doch mit Anfang 30 nahm sie zu, vor allem in der Ehe; 2019 brachte sie knapp 150 Kilogramm auf die Waage.
Sie aß Süßigkeiten, und zwar in großen Mengen. „Auch gerne. Es war die Maßlosigkeit. Und dann das ungesunde Essen nach einem stressigen Tag, wenn ich mir einfach ein Fertiggericht gemacht habe, die Tiefkühlpizza, den Beutel Nudeln in der Pfanne.“ Drei oder vier Mal die Woche ließ sie sich von einem Lieferdienst Essen bringen. Sie spürte Antriebslosigkeit. „Es war eine Müdigkeit in mir, ich war lustlos und bequem und spürte, wie es schlimmer wurde, einen Kreis, den ich irgendwie durchbrechen musste.“ Sie erlebte den Rückfall nach Diäten, „den Jojoeffekt, und noch einen und noch einen und noch einen“.
„Ich bin adipös, mit vielen unschönen Begleiterscheinungen, wie chronischem Bluthochdruck, Lipödem, PCOS und einigem mehr.“ PCOS ist eine vielschichtige Funktionsstörung der Eierstöcke, die den Kinderwunsch nicht in Erfüllung gehen ließ. Und das war nicht die letzte schlechte Nachricht vom Arzt: „Wenn ich so weitermache, hat er gesagt, dann würde ich wegen des hohen Bluthochdrucks innerhalb eines Jahres einen Schlaganfall haben. Das war die Peitsche.“
In neun Monaten 70 Kilo runter
Die Ansage des Mediziners wirkte eindrücklich. „Ich habe mein Leben krass umgestellt: Sport, Ernährung. In einem Dreivierteljahr hatte ich 70 Kilo runter, auf 80.“ Während der Corona-Pandemie hat sie sich ein Heimstudio eingerichtet und dreimal am Trag trainiert und dabei so gut wie nichts gegessen. Sie war „glücklich, schlank zu sein“, fühlte sich aber „sehr unwohl und körperlich angeschlagen“.
Es folgte die Scheidung. „Er fand weder den vorherigen Zustand gut, noch das Abnehmen. Zudem fand er mich nicht anziehend genug mit meinem Gewicht“, resümiert sie. Noch schlimmer wog der Vorwurf: „Wegen Dir kann ich keine Kinder bekommen. Du hast ja diese Krankheit.“ Sie habe darum die Reißleine gezogen und gesagt: „Es funktioniert nicht! Es gibt kein Entgegenkommen, kein Verständnis für meine Bedürfnisse.“ Dreimal habe sie versucht, den Kinderwunsch mit Hilfe der Uni-Klinik in Bonn zu verwirklichen: „Aber ich bin alleine zu den Terminen und Untersuchungen gefahren, bis auf die Termine, bei denen er seinen Beitrag spenden musste.“
Diese Phase ihres Lebens liegt nun hinter ihr. Sie hat einen neuen Partner und lebt mit ihm in Euskirchen. Ihr Kleiderschrank enthält alle Größen zwischen 40 und 50. Schon aus finanziellen Gründen hat sie gelernt, nicht voreilig unpassendes wegzuwerfen. Geblieben sind auch die Beschwerden: Atemnot, Schwitzen, schnelle Erschöpfung - die Probleme der Leibesfülle begleiten Roggendorf bei jedem Gang, auch wenn sie nur mal kurz mit dem Hund vor die Tür geht. „Ich bekomme einfach nicht gut Luft. Das bedingt eine psychische Belastung, die dabei immer unterschätzt wird. Keiner ist glücklich damit.“ Selbst wenn jetzt die Fee käme, die sie mit einem Fingerschnippen schlank machen würde ... „Ich würde ihr nicht trauen, denn was wäre am nächsten Tag?“
„Das klingt jetzt alles sehr jammerig und mitleidheischend; das soll es aber nicht sein“, merkt Roggendorf an. Im Fernstudium hat sie in den vergangenen drei Jahren auch Gesundheitspsychologie studiert, vor allem aus Interesse. Etwas von dem Wissen, das sie beim Warten auf ihre Therapie schon angesammelt hat, mag sie nun weitergeben. „Jeder sollte den Anspruch haben, sich selbst zu helfen.“ Die Gruppenmitglieder sollten sich gegenseitig Mut machen, wieder anzufangen, sich gegenseitig Tricks und Unterstützung zukommen lassen. Auch der Schutz vor Attacken auf Sozialen Medien ist ihr ein Anliegen.
Bei noch mehr Interessenten will sie die Selbsthilfegruppe aufteilen, auf Treffen zweimal im Monat, eventuell auch nach Themen wie Adipositas, Lipödem, Overeating oder Binge Eating Disorder. „Damit nachher nicht jeder nur fünf Minuten hat, um sich auszutauschen. Jeder soll sich akzeptiert, respektiert und gehört fühlen.“ Sie hat zudem Hoffnung, dass sie nicht der einzige Moderator sein wird. Roggendorf: „Natürlich kann eine solche Gruppe niemals eine richtige psychotherapeutische Behandlung ersetzen, aber sie kann Menschen helfen, sich ein bisschen besser zu fühlen und dass dadurch das Leben ein wenig leichter wird.“ Es sei schwer genug, Gesprächspartner für dieses schambehaftete Thema zu finden und Vorurteilen entgegenzuwirken, etwa, dass dicke Leute sich ja nur mal am Riemen reißen müssten.
Ein wenig nüchterne Arbeit wartet noch auf sie. Wenn sie einen Überblick hat, wie viele Interessenten zusammenkommen, muss sie für die Gruppe noch ein Programm erstellen, zumal sie Ideen für Vorträge von Ernährungsberatern oder Sportmedizinern hat. Der Raum für den Start ist bereits gefunden: im Pfarrzentrum in Swisttal-Odendorf. Dort wird am Donnerstag, 16. Mai, das erste Treffen stattfinden. Um 18 Uhr wird es losgehen. Kontaktaufnahme ist per Mail möglich.
Die Zahl zu Adipositas
19 Prozent der Menschen in Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut von Adipositas betroffen, also einem starken, krankhaften Übergewicht. Das wurde 2020 ermittelt. Bei einer Studie gaben damals 53,5 Prozent der Befragten an, sie hätten Übergewicht.